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BLUE NIGHT SHADOW

Norbert Göttler
BLUE NIGHT SHADOW

Lange Zeit waren noch Stimmen zu hören gewesen, Schritte auf dem Flur und das Rauschen der winzigen Duschen. Danach war einigermaßen Ruhe eingekehrt. Die meisten der Fahrgäste hatten sich in ihre Kojen zurückgezogen. Der „Blue Night Shadow“ durch die Nacht. Eine Nacht, die nicht blau, sondern graphitschwarz ist. Ich lausche dem Eisregen, der gegen die Fenster peitscht. Dem Takt, den die Schweißnähte der Schienen erzeugen. Manche schwören auf seine beruhigende Wirkung, mich aber macht er fahrig und nervös. Zumindest heute. Ich will mich zwingen wegzuhören, aber es gelingt mir nicht. An Schlaf ist nicht zu denken. Ich spüre es, diese Nacht ist mir boshaft gestimmt. Draußen winselt der Wind, und nasser Schneeschleim läuft in schrägen Schlieren vom Fenster herab.

Ich richte mich auf und schiebe die Jalousien herunter. Es ist, als schleuderte jemand tonneschwere Luftfelsen gegen die Waggons, die immer wieder erbeben und erzittern. Im fahlen Licht der Abteillampe versuche ich, einige Zeilen des Bordprospekts zu lesen. Im „Blue Night Shadow“, so steht da geschrieben, wird Reisen zum „Erlebnis des Schwebens“. Zum „Erlebnis des pfeilgenauen Schwirrens durch die Zeit“. Zweifellos, der Zug hatte etwas von einem Pfeil, solange er regungslos im Bahnhof stand. Eisblau das Design, windschlüpfrig die Form. Die Fenster verspiegelt, die Türen kaum zu erkennen. Eine Rakete, die man in die Horizontale gelegt hat. Doch während ein Pfeil sein Ziel lautlos, oder wenigstens doch nur mit einem sphärischen Pfeifen erreicht, bleibt der „Blue Night Shadow“ auf Gedeih und Verderb der Erde verbunden. Tonnenschwer lastet er auf den Schienen. Schon bei den ersten Weichen zerplatzte unter lautem Dröhnen die Illusion der lautlosen Zeitreise. Ich wälze mich hin und her, versuche zu schlafen, schrecke aber immer wieder aus einer unruhigen Benommenheit hoch. Das Herz rast, und kalter Schweiß steht auf meiner Stirn. Irgendetwas hat sich verändert. Irgendetwas ist anders geworden – härter, bedrohlicher. Ist es der Takt der eisernen Maschine, deren Teil ich geworden bin, oder ist es der Takt meines gehetzten Herzens? Ohne Zweifel, die Geschwindigkeit des Zuges hat sich stark beschleunigt. Was ist schon dabei? Umso besser! versuche ich mir einzureden. Ich will mich beruhigen, mich ablenken. Draußen laufen wieder Fahrgäste hin und her, sie suchen ihre Abteile. Eine Gruppe angetrunkener Rekruten bahnt sich pöbelhaft ihren Weg durch den engen Gang. Endlich entfernen sich ihre Schritte.

Einige Minuten lang war ich abgelenkt, aber jetzt überfällt mich wieder meine unheimliche Besorgnis. Diese Geschwindigkeit des Zuges ist nicht normal! Irgendetwas läuft hier aus dem Ruder! Ich versuche, mich mit Selbstironie zu beruhigen. Du bist nicht mehr geschaffen für die Geschwindigkeit der neuen Zeit! Der „Blue Night Shadow“ ist nun mal der schnellste Zug Europas! Eine „Rakete auf Schienen“, steht im Bordprospekt. Aber mit jedem Rattern der Räder hämmert es in meinen Kopf: Der Zug ist außer Kontrolle! Was geht hier vor? Merkt denn das niemand? Ich schiebe die Jalousien hoch. Draußen rasen in einem irrwitzigen Taumel rote und weiße Lichtpunkte vorüber. Ihre Strahlen brechen sich gespenstisch in den Wassertropfen der Fensterscheibe. Die Aufschriften an den Schildern der kleinen Bahnhöfe sind nicht mehr zu erkennen. Wenn ich in dieser Nacht noch Schlaf finden will, muss mir jemand meine Besorgnis nehmen. Ich muss mir jetzt Gewissheit verschaffen. Ich schlüpfe notdürftig in meine Kleidung und schließe die Abteiltüre auf. Draußen ist es fast dunkel, nur das zittrige Licht einer Notbeleuchtung brennt. Keine Menschenseele ist zu sehen. Ich taste mich voran, und werde von den Bewegungen des Zuges mal links, mal rechts an die eisernen Wände gedrückt. Endlich, am Ende des Schlafwagens, das kleine Abteil des Schaffners. Ich klopfe. Nichts rührt sich. Ich klopfe nochmals. Wieder nichts. Ich rüttle an der Türe. „Aber was wollen Sie denn, mein Lieber?“ höre ich hinter mir jemanden sagen. Ein freundlicher älterer Herr steht im Schlafmantel hinter mir. „Dieser Zug hat kein Personal, wissen Sie das denn nicht? Alles vollautomatisch, alles computergesteuert!“ Der Mann zwinkert mir gutmütig zu, als ich ihm meine Bedenken vortrage. Ich solle mir keine Sorgen machen. Alles sei in bester Ordnung, der Zug planmäßig und vollkommen störungsfrei unterwegs. Ob ich eine Schlaftablette wünsche? Er könne mir eine aus seinem Koffer holen. Verstört schüttle ich den Kopf, schleiche grußlos davon und schließe mich in mein Abteil ein.

Alles dröhnt. Zittrig suche ich nach dem Fahrplan. In zehn Minuten sollen wir die nächste Haltestelle erreichen. Ein Uhr dreißig. Der letzte Halt vor der Fahrt durch die Nacht. Jetzt muss es sich herausstellen. Wenn der Zug abbremst, ist alles in Ordnung. Er wird anhalten, einige verspätete Passagiere werden noch in den Waggon kommen und die letzten Schlafplätze einnehmen. Dann werde ich Ruhe finden. Was, aber wenn nicht? Ich ertappe mich mit dem Gedanken, diesen unseligen Zug beim nächsten Halt zu verlassen. Egal wie, egal wo. Dauernd blicke ich auf die Armbanduhr. Nur noch drei Minuten. Der Zug rast durch die Nacht. Er macht keine Anstalten, die Fahrt zu verlangsamen. Nochmals den Fahrplan studiert. Wir müssten längst da sein. Ich drücke die Nase auf die eisige Fensterscheibe. Draußen ist nichts zu sehen, außer wirren Farbschlieren. Mein Herz schlägt hektisch. Kein Anstalten, dass sich der Zug verlangsamt. Nochmals vergehen Minuten. Jetzt findet draußen eine Veränderung statt. Der Lichtertaumel verdichtet sich, Häuserzeilen jagen vorüber, sturmgepeitschte Ampeln baumeln über den Straßen. Das muss die Stadt sein. Warum hält der „Blue Night Shadow“ nicht an? Sein Tempo beschleunigt sich unentwegt. Ich stehe angekleidet in meinem Abteil. Nur noch wenige Bruchteile einer Sekunde, und wir haben den Bahnhof der Stadt passiert. Aber was heißt passiert? Wir sind durch ihn hindurchgeschossen, haben ihn in zwei Hälften zerschnitten, dass die Bahnsteige links und rechts gerade so durch die Luft flogen. Ich reiße meine Abteiltüre auf und stürze auf den Flur. Der alte Mann muss mir helfen! In so einem Zug muss es einen Zugführer geben! Man kann doch nicht alles der Technik überlassen! Der alte Mann und ich, wir müssen Alarm schlagen! Ich werde ihn dazu zwingen. Jetzt bin ich an seinem Abteil angelangt. Die Türe steht offen und schlägt mit jeder Bewegung des Zuges hin und her. Weit und breit kein Mensch zu finden. Weiß der Teufel, wo sich der Kerl herumtreibt! Ich trommle an die Türen der umliegenden Abteile. Es ist mir jetzt egal, wen ich wecke. Jemand muss mir helfen, diesen Wahnsinn zu beenden. Niemand rührt sich. Ich rüttle und zerre. Alles abgeschlossen. Auf einmal meine ich Geräusche zu hören. Ein Jammern und Klagen. Ich werfe mich mit dem ganzen Körper gegen die Türe, bis das Schloss krachend nachgibt. Drinnen gähnende Leere. Benutzte Bettbezüge hängen über die Pritschen, von Gepäck ist nirgendwo etwas zu sehen. Nur das Fenster ist leicht geöffnet und gibt ein höhnisches Wimmern von sich. „Blue Night Shadow“! Ich bin allein in diesem verdammten Zug. Ich werde mit ihm zugrunde gehen! Ich rase mit einem stählernen Sarg durch die Finsternis. Ein zu enger Kurvenradius, eine falsche Weiche, ein Sackbahnhof – und mein Leben wird in einem apokalyptischen Flammeninferno verlöschen. Ich sinke auf der Schlafkoje nieder.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrichen ist, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann, aber es gelingt. Ich darf mich jetzt nicht gehen lassen. Wenn dieser Traum kein Albtraum ist, muss diese Höllenmaschine zu stoppen sein, egal wie! Ich verlasse das Abteil. Der Zug wirft mich hin und her. Bei jeder Weiche scheinen die Räder aus den Schienen zu springen. Überall fallen Koffer und Taschen aus den Gepäcknetzen. Getränkedosen jagen sinnlos durch die Gänge. Endlich finde ich, wonach ich suche. Ein roter Hebel, an dem ein verplombtes Kettchen baumelt. „Nothalt“ steht in großen Buchstaben darunter geschrieben. „Missbräuchliches Betätigen strafbar!“ In meinem Leben habe noch keine Notbremse gezogen. Was wird jetzt geschehen? Egal, ich halte mich mit einer Hand an einem Gepäckgitter fest und ziehe mit der anderen am Griff. Jede Reaktion ist mir recht. Jede noch so unbedeutende Verzögerung. Aber nichts geschieht. Der Zug rast weiter mit ohrenbetäubendem Lärm durch die Nacht, also ob nichts geschehen wäre. Die Notbremse ist defekt! Wie soll es in diesem Geisterzug auch anders sein. „Aber was machen Sie denn da?“ höre ich die Stimme des alten Mannes rufen. Er steht in Lederpantoffeln und seinem gestreiften Schlafmantel vor mir. „Beruhigen Sie sich doch! Alles ist wirklich in bester Ordnung!“ Ich packe ihn am Revers seines Mantels, aber er lacht nur laut auf. „Na, Sie sind aber überdreht! Wohl lange nicht mehr gereist, was?“ Der Mann ist mir keine Hilfe! Ich wende mich fluchend ab. Was tun? Vielleicht funktioniert die Notbremse in einem anderen Abteil? Was bleibt mir anderes übrig? Ich stürze voran, und im Licht der Notbeleuchtung wiederholt sich das Spiel. Alle Waggons sind menschenleer. Nur Papiertüten, Getränkedosen und anderer Unrat liegen auf den Sitzplätzen. Jeder Waggon ist mit einer Notbremse ausgestattet, doch keine davon funktioniert. Überall lassen sich die Hebel mühelos nach unten ziehen. Dann baumeln sie sinnlos in ihren Halterungen. Auf die Bewegung des Zuges nehmen sie keinen Einfluss. Der „Blue Night Shadow“ schießt unaufhaltsam dahin.

Ich zittere am ganzen Körper und bin nahe daran, mich schluchzend meinem Schicksal zu ergeben, als ich Stimmen zu hören glaube. Immer wieder werden sie vom Dröhnen des Zuges übertönt. Die Geräusche kommen von vorne, von der Spitze des Zuges, dort, wo das Führerhaus an die Waggons angedockt ist. Vielleicht haben sich einige Passagiere vorne im Bistro versammelt? Ich raffe mich auf und laufe in die Richtung der Geräusche. Je näher ich an den Speisewagen komme, desto deutlicher sind Gelächter und Gegröle zu vernehmen. Immerhin scheint es außer mir doch noch jemanden zu geben, aber was, zum Teufel, geht hier vor? Merkt denn hier niemand, was sich abspielt? Ich reiße die Bistrotüre auf und übler Geruch empfängt mich. Ich erkenne die entlassenen Rekruten, die schon vor Stunden torkelnd und laut singend durch den Zug gezogen sind und andere Passagiere angepöbelt haben. Jetzt stehen sie um einen der Tische, trinken aus Bierdosen, grölen wirres Zeug und starren mit glasigen Augen auf mich. Andere Reisende oder Zugpersonal kann ich nicht erkennen. Auf dem Boden liegen Scherben und leere Flaschen. Hinter dem Tresen stehen die Türen der Kühlschränke sperrangelweit offen. Ihre Frontscheiben sind eingeschlagen. Auf dem Boden liegt einer jener kleinen Hämmer, mit dem sich eingeschlossene Fahrgäste aus ihren Abteils befreien sollen. Offenbar haben die Kerle damit die Kühlschränke geknackt und die Vorräte geplündert. Ich fasse einen der jungen Männer am Kragen und schüttle ihn. Ich schreie ihn an und will ihn zur Vernunft bringen. Ich fluche und drohe. Doch der Betrunkene rollt nur mit den Augen und lallt. Die anderen sind noch übler dran. Einer von ihnen hat sich bereits auf dem schmutzigen Fußboden ausgestreckt.

Es hat alles keinen Sinn, denke ich verzweifelt, und verlasse das stinkende Abteil. Ich wanke ein paar Schritte, dann kommt mir noch ein Gedanke! Die zerborstenen Kühlschrankfenster! Der Hammer, natürlich! Mit ihm könnte man versuchen, die Scheiben zum Führerhaus einzuschlagen. Vielleicht gibt es doch einen Zugführer? Er ist sicher ohnmächtig und man kann ihn wieder zur Besinnung bringen! Oder zumindest einen Notruf absetzen? Atemlos kehre ich in das Bistro zurück, lasse die Betrunkenen unbeachtet und nehme den Hammer an mich. Dann renne ich in Richtung Führerhaus. Natürlich ist sie verschlossen, aber, wie erwartet, doch mit einem kleinen Sichtfenster ausgestattet. Ohne viel zu überlegen, schlage ich mit voller Kraft dagegen. Das Glas zerspringt. Ich werfe einen Blick in das Innere des Fahrerstandes – er ist vollkommen leer! Durch die Frontscheibe rast eine pechschwarze Nacht auf mich zu. Ich muss mich zwingen wegzusehen, und bekomme von innen den Griff der Türe zu fassen. Ich drehe ihn herum und sie springt tatsächlich auf! An der Wand hängt eine Taschenlampe. Zitternd knipse ich sie an. Ein Wunder, sie funktioniert. Mit ihrer Hilfe suche ich den Raum mit seinen zahllosen Instrumenten und Schaltern ab. Endlich – ein Telefonhörer. Ich hebe ab und lausche. Ich höre nur das Pulsieren des Blutes in meinem Ohr. Die Leitung ist tot. Ich drücke wahllos mehrere der nächstliegenden Knöpfe, aber ohne Erfolg. Das Telefon gibt keinen Laut von sich. Wütend werfe ich den Hörer in die Gabel. Dafür lässt mich ein Blick aus dem Frontfenster erstarren. Vor mir tauchen die Umrisse einer Großstadt auf. Ich blicke auf die Uhr und schreie auf. Der Zug rast in mörderischer Geschwindigkeit auf einen Sackbahnhof zu. In wenigen Minuten wird das entsetzliche Unglück geschehen. Nichts und niemand kann es mehr aufhalten. Meine Knie geben nach und ich muss mich auf den Boden setzen.

Ist das also das Ende? Warum bin ich je in dieses Monster vor Eisenbahn gestiegen? Ich starre vor mich hin. Und während ich so in bleierne Apathie zu versinken drohe, fallen meine Blicke auf einen unauffälligen Hebel. Die Bremse! Auch der Führerstand muss über einen Nothalt verfügen, so fährt es mir durch den Sinn. Diese Bremse muss doch in Gottes Namen funktionieren! Ich springe auf, taste mich an den Hebel heran, umfasse ihn und versuche ihn fieberhaft nach rechts zu drücken. Er lässt sich nur schwer bewegen, aber langsam rührt er sich. Schon spannt das Sicherungskettchen, das wohl mit einem Ruck gesprengt werden muss. Salziger Schweiß läuft mir in die Augenwinkel. Ich muss mich aufrichten und werfe einen Blick aus dem Fenster des Führerhauses. Wir rasen in ein Loch aus abgrundtiefem Schwarz, nur in der Ferne werden die roten und weißen Lichter immer größer. Die Signale unseres Zielbahnhofes! Es kann kein Zweifel daran bestehen. Ich habe nur mehr wenige Minuten, die Höllenfahrt zu beenden. Was wird nach der Notbremsung geschehen? Entgleisung, Chaos? Richte ich das Unheil selber erst an? Egal! Ich umfasse mit beiden Händen den Griff des Nothaltes. Der Zug vibriert wie von Dämonenhand gerüttelt. Schluss damit! Jetzt endlich soll es ein Ende haben mit diesem Albtraum. Ich beginne zu drücken. Störrisch legt sich der große Hebel nach rechts, spannt die Kette und lässt die Plombe mit einem leisen Schnalzen zerspringen. Ich spüre, dass die Mechanik auf einen neuen Widerstand trifft. Ein gutes Zeichen! Anders als bei den Notbremsen in den Waggons. Ich verstärke meine Kraftanstrengung. Jetzt kann die Rettung noch gelingen! Ich drücke mit aller Kraft den Hebel nach rechts. Und tatsächlich, das Höllentempo verlangsamt sich, je weiter sich der stählerne Griff auf die Seite legt. Unmerklich zunächst, aber dann immer deutlicher. Die unsichtbare Mechanik im Inneren der Lokomotive setzt mir freilich äußersten Widerstand entgegen, ich darf ihr keinen Millimeter Raum lassen. Wie ein störrisches Tier drängt sie gegen mich an. Ein Moment des Zurückweichens und sofort bäumen sich die Motoren auf. Vor mir nähern sich die Lichter des Sackbahnhofs. Mit dem ganzen Gewicht meines Körpers liege ich auf dem Bremshebel. Schweiß läuft mir in die Augen. Aber ist spüre den Erfolg. Millimeter für Millimeter legt sich der Hebel auf die Seite, gleichzeitig wird der Zug langsamer und langsamer. Wie viel Zeit bleibt mir noch? Die roten und weißen Lichter vor der Windschutzscheibe kommen bedrohlich nahe. Ich drücke, dass ich das Blut in meinen Schläfen rauschen höre. Nur mehr wenige Zentimeter fehlen noch. Sicherlich arretiert der Hebel, wenn er vollständig auf die Seite gedrückt ist. Das wäre die Rettung. Die Maschine unter mir faucht und rollt. Nur mehr zwei Fingerdick bleiben bis zum Anschlag. Warum höre ich nicht das Klicken der Arretierung? Kein Geräusch der Welt wäre mir jetzt angenehmer. Sobald meine verkrampften Finger sich von dem Metall gelöst hätten, würde ich auf die Seite rollen und in eine wohlige Ohnmacht fallen. Jetzt nicht aufgeben, pulsiert es in meinem Gehirn. Jetzt den letzten Ruck wagen! Durchhalten!

Aber was ist das? Ein Geräusch hinter mir? Schritte? Neben dem unterdrückten Rasen der Motoren und dem schon perlschnurartigen Rattern der Schienen ist etwas zu hören, das wie das Knirschen von Glassplittern klingt. Irritiert drehe ich mich um und blicke auf ein paar Lederpantoffel. Der Alte mit dem Schlafmantel steht vor mir und grinst mich an. „Hierher hast du dich also geflüchtet, du verrückter Vogel! Kommt schon, Jungs, der arme Kerl hat den Verstand verloren! Wir müssen ihn unschädlich machen, ehe er noch irgendein Unheil anrichten kann!“ Entsetzt sehe ich, wie sich hinter dem Alten mehrere der Rekruten drängeln. Einer von ihnen steht plötzlich unmittelbar vor mir. Wankend und mit dumpfen Augen blickt er auf mich, der ich gebückt, – den Griff des Nothalts noch in Händen – vor ihm kauere. „Komm, lass schön los, mein Kleiner!“ grölt er mit schwerer Zunge und tritt noch einen Schritt näher. „Unglaublich, was heute alles auf die Menschheit losgelassen wird! Ein armer Verrückter!“, höre ich hinter ihm die Stimme des Alten.
Wie gelähmt nehme ich die rasche Bewegung eines tätowierten Armes wahr, die erhobene Gebärde, die halbvolle Bierflasche. Dann den dumpfen Schmerz, als die Flasche auf meinen Schädel niederfährt, mein Fluchen, mein Entsetzen, das unbändige Zurückschlagen des befreiten Bremshebels, das höhnische Aufbäumen der Motoren, den Ruck, der durch alle Abteile des Zuges fährt, das Knirschen der Glassplitter, als man mich über den Boden der Fahrerkabine schleift, und schließlich die letzten Zuckungen meiner wirren Gedanken, die langsam wie Irrlichter im graphitschwarzen Dunkel des „Blue Night Shadow“ verlöschen.