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Kontinuitäten der NS-Gewalt in Deutschland

Interview mit Dr. Jürgen Müller-Hohagen, Dipl. Psychologe, Psychotherapeut und Vizepräsident der Lagergemeinschaft Dachau
(Interviewer: Dr. Norbert Göttler, Februar 2023)

 

Herr Dr. Müller-Hohagen, Sie haben in Ihren Schriften immer wieder überzeugend dargestellt, dass das totalitäre Denken in Deutschland durch das Ende des NS-Staates noch nicht vorüber ist, sondern nachwirkt. Was meinen Sie damit konkret?

Als jemand, der sich seit nunmehr vierzig Jahren mit seelischen und zwischenmenschlichen Folgen der NS-Zeit befasst, sage ich seit Langem: Es gibt in unserem Land Kontinuitäten der NS-Gewalt, von denen niemand etwas wissen will, die aber gerade dadurch wirksam sind – und das nicht nur bei ausgewiesenen Rechtsextremen.
Über transgenerationale Weitergabe von Traumata wird mittlerweile allenthalben gesprochen. Die Gegenseite aber, nämlich die Gewalt, ohne die es diese Traumatisierungen nicht gegeben hätte, die wird ausgeklammert. Transgenerationale Übermittlung von Täterbezügen, solch eine Behauptung erntet Kopfschütteln. Dabei müsste diese These für einen einigermaßen klardenkenden Menschen völlig logisch sein.
Kinder in ihrer extremen Abhängigkeit nehmen unendlich viel von ihren Eltern und der weiteren Umgebung auf, dabei auch von deren dunklen, verborgenen Seiten. Und da sollten Täterbezüge auf wundersame Weise ausgeschlossen sein?
Der „Große Frieden mit den Tätern“ nach 1945, wie der Publizist Ralph Giordano es genannt hat, kommt hier zum Zuge. Bis heute. In unserer hochgelobten deutschen Erinnerungskultur fehlt es an einer entscheidenden Seite, nämlich an einer Kultur im Umgang mit der konkreten Täterschaft und Tatbeteiligung unserer Vorfahren.

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Was sollen wir tun? Gesinnungsethik oder Verantwortungsethik?

Ob man die Begriffe Ethik und Moral mag oder nicht – die Frage, wie unser Tun und Unterlassen verantwortet werden kann, wie wir Recht und Unrecht unterscheiden, beschäftigt uns Menschen seit Jahrtausenden. Wer nicht gerade in einen zynischen Relativismus verfallen ist, dem stellt sie sich täglich im privaten, sozialen und politischen Umfeld.

Wie aber kommt man von der Frage zu einer einigermaßen befriedigenden Antwort? Die meisten würden wohl antworten: durch das Hören auf eine innere Stimme, auf ein Gewissen, auf eine spontane Eingebung – oder wie immer man das Gefühl nennen mag, das unser Tun und Lassen für gewöhnlich beeinflusst.

Nun kennt auch moderne Ethik den Begriff der Intuition und reflektiert dessen Möglichkeiten und Grenzen, Voraussetzungen und Gefahren. Sie weist aber darauf hin, dass man sich der Baustelle des Guten und Bösen auch mit dem – zugegeben immer begrenzten – Handwerkszeug der Vernunft nähern kann. Auf dieses Feld möchte sich der folgende Artikel begeben. Das Identifizieren von Argumentationsmustern könnte manch heutige Diskussion versachlichen.

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Gastbeitrag: Johano Strasser – Die Mühen der Ebene

Ich bin ein gelernter Reformist, nicht ein geborener. Als Heranwachsender habe ich zuweilen davon geträumt, alle Ungerechtigkeit, alle Unterdrückung mit einem Schlag von der Erde zu tilgen. Wenn es nicht anders geht, dann eben auch mit Gewalt, wobei mir allerdings nicht bewusst war, was Gewalt wirklich bedeutete. Welchen Grund, so fragte ich mich, kann es geben, gegenüber dem offensichtlich Schlechten Nachsicht zu üben, Geduld aufzubringen, während das Unrecht erkennbar weiter seinen Lauf nimmt? Auch heute noch tue ich mir oft schwer mit Kompromissen. Wenn es ums Grundsätzliche geht, werde ich leicht ungeduldig, wenn längst fällige Reformen hinausgezögert werden, wenn Mal um Mal die Dummheit und das Unrecht triumphieren und die Bestrafung der Ungerechten und Hochmütigen wieder einmal auf sich warten lässt.

Unerschütterliche Kontenance ist etwas für die Satten und Zufriedenen, für die, denen die Welt, wie sie ist, als nicht verbesserungsbedürftig, vielleicht sogar nicht einmal verbesserbar erscheint. Aber: „Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert“, ließ Lessing die Gräfin Orsini in Amelia Galotti sagen, „der hat keinen zu verlieren.“ Mit diesem Satz hätte ich meine revolutionäre Ungeduld vielleicht rechtfertigen können. Aber Lessing ist vor weit über zweihundert Jahren in Braunschweig gestorben und daher als Gewährsmann heute kaum noch zu gebrauchen.

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Gastbeitrag: Johano Strasser – Das Glück des Politischen

Der Beruf des Politikers genießt in unserer Gesellschaft kein hohes Ansehen. An den Stammtischen der Republik gelten Politiker oft als bürgerfern, inkompetent und korrupt. Dass man trotzdem von ihnen erwartet, dass sie möglichst alle auftauchenden Probleme umgehend lösen, und enttäuscht ist, wenn das nicht der Fall ist, gehört zu den zahlreichen Widersprüchen im Bewusstsein der Politikkonsumenten. Dass Politik in der Demokratie keineswegs die Angelegenheit einer „politischen Klasse“ oder „politischen Kaste“, sondern die Sache aller Bürger ist, dass wir alle selbst für den Zustand des Gemeinwesens verantwortlich sind, kommt vielen gar nicht in den Sinn.

Dabei bietet die Demokratie den Bürgern viele Möglichkeiten, auf die öffentlichen Belange Einfluss zu nehmen: man kann zur Wahl gehen, in eine Partei, eine Gewerkschaft, einen Verband eintreten und direkt oder indirekt an der Formulierung politischer Ziele mitwirken, man kann für ein öffentliches Amt kandidieren, eine Bürgerinitiative gründen, demonstrieren, Leserbriefe schreiben, man kann Petitionen einreichen, mit anderen reden oder im Internet chatten und sie für die eigene Überzeugung gewinnen. Wer die allen zugänglichen bürgerlichen Freiheiten nicht nutzt, ist zumeist selber schuld.

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Wehrhafte Demokratie

1. Die Wurzeln demokratischen Denkens

Eine Demokratie ist eine Staats- und Regierungsform, in der das Volk der Souverän ist, die Macht also vom gesamten Volk ausgeht. Dessen politischer Wille wird entweder unmittelbar durch Volksbefragungen („direkte Demokratie“), häufiger aber durch die Wahl entscheidungstragender Repräsentanten und Gremien („repräsentative Demokratie“) ermittelt. Vielerorts gibt es Mischformen, die „plebiszitäre Demokratien“ genannt werden. In Form von „parlamentarischen Monarchien“ können auch ehemalige Monarchien demokratisch geführt werden.
Demokratische Entscheidungen werden nach dem Mehrheits- und Koalitionsprinzip hergestellt. Die Suche nach Konsens sowie der Schutz von überstimmten Minderheiten und Oppositionen sind ebenso unabdingbare Elemente humanitärer Demokratien. Demokratie funktioniert nur im Umfeld von Gewaltenteilung und Menschenrechten wie der Meinungs- und Pressefreiheit. Um demokratischen Standards zu genügen, müssen Wahlen allgemein, gleich, frei, geheim und ohne Repressalien stattfinden können.

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Gastbeitrag: Gert Heidenreich – Die Wiederkehr der Nashörner

Vernunft in fanatischer Zeit
Festrede zur Jahresversammlung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste am 7. Juli 2016

Die Demokratie ist eine riskante Einrichtung: Das Mehrheitsprinzip legitimiert auch dümmste Beschlüsse, und wenn eine Nation – wie jüngst die stolzen Briten – ihr Schicksal auf dem Niveau ihrer Boulevardzeitungen entscheidet, kommt das Entsetzen darüber, dass fanatische Unvernunft die Oberhand über Aufklärung und Besonnenheit gewann, zu spät. Das Kind ist im Brunnen, das Volk hat es so gewollt.
Solche demokratisch herbeigeführten Katastrophen sind durch mangelnde oder irreführende Unterrichtung allein nicht zu erklären, sondern deuten auf ein lebensgefährliches Bildungsproblem. Betroffen davon ist freilich nicht nur Großbritannien.

Wenn ich von Bildung spreche, dann nicht von Information, nicht von Kenntnissen, nicht von Sachverstand und schon gar nicht von outgesorctem Expertentum in den Lagerhallen des Internet.

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Werte und Normen

„Unsere Werte“ – gibt es die eigentlich? Sind wir uns über den Gehalt „unserer Werte“ so einig? Wenn ja, warum dann das ständige Ringen der Philosophie um dieses Thema (z.B. Max Schelers „Werteethik“), warum pausenlose Konferenzen von „Grundwertekommissionen“, warum das aufgeregte Lamentieren über „Werteverfall“ und „Werteverlust“ innerhalb der westlichen Industriegesellschaften? Zumindest schadet es nicht, ein wenig nachzudenken über ein Wort, das leicht (allzu leicht?) von den Lippen geht, aber doch so schwer zu fassen ist!

Der Begriff „Wert“ kommt zunächst aus der Ökonomie und bedeutet einfach „was eine Sache Wert ist, was sie kostet“. Als der Begriff im 19. Jahrhundert auf abstrakte, ja, ethische Sachverhalte übertragen wurde, begannen die Schwierigkeiten. „Wert“ ist zunächst ein vollkommener Leerbegriff und muss immer erst inhaltlich aufgefüllt werden. Werte verändern sich, schnell stellte sich heraus, dass verschiedene Gruppen und Individuen auch unterschiedliche Dinge „wertschätzen“.

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Verfassungs-Patriotismus statt Nationalismus

Darf man sein Vaterland lieben, auf es stolz sein? Im Gegensatz zur Heimatverbundenheit, die eine emotionale Nähe zu kleineren Lebenseinheiten, wie Region, Dorf oder Stadt, aber auch zu abstrakten Netzwerken wie Verwandtschaft, Szenen, digitale Communities, umschreibt, ist der Begriff Patriotismus (zu deutsch auch Vaterlandsliebe) stark mit der politischen Identifikation mit der eigenen Nation verknüpft.

Positiv verwendet, meint Patriotismus eine Verbundenheit mit der eigenen Nation, ohne diese über andere zu stellen oder diese – wie es im Nationalismus oder Chauvinismus üblich ist – überheblich zu diskreditieren. Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt, ein Nationalist oder Chauvinist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet. Herabsetzend kann der Nationalist auch auf jemanden einwirken, der gleicher Nationalität ist, aber dieser nicht die gleiche Bedeutung beimisst, wie der glühende Verteidiger des Vaterlands. Der Begriff Chauvinismus soll übrigens vom Rekruten Nicolas Chauvin hergeleitet sein, der in der napoleonischen Armee siebzehnmal verwundet wurde, und in übersteigertem Idealismus immer wieder und gegen den Befehl seiner Vorgesetzten zur Front eilte.

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Sind Menschenrechte heute noch universal begründbar?

Unter dem Eindruck der millionenfachen Opfer von Nationalsozialismus und Stalinismus und unter der Last der Erfahrung, dass menschenverachtende Diktaturen liberale Demokratien dauerhaft vernichten können, verabschiedeten am 10. Dezember 1948 die Vereinten Nationen ihre „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, in der sie die Mindeststandards des sozialen Zusammenlebens auf unserem Planeten formulierten. Die Nichtanerkennung und Verachtung von Menschenrechten führe, so die Charta, unweigerlich zu Akten der Barbarei, heute wie gestern. Achtundvierzig Staaten aller Kulturkreise stimmten der Erklärung zu, acht enthielten sich (darunter der Vatikan), Gegenstimmen gab es keine.

Viele Rechtssysteme aller Welt nahmen daraufhin die Grundgedanken der Bürger- und Menschenrechte in ihre Verfassungen auf, so auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949. Einige Zeit dachte man, Kontroversen um die Menschenrechte wären von nun an nur mehr eine Frage der Interpretation.

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Tradition und Traditionalismus

„Getreu unserer Tradition!“
„Traditionelles Handwerk!“
„Es ist gute Tradition, dass…“

 

Nach antik römischem Recht war die „traditio“ die Besitzübergabe eines beweglichen Gegenstandes, z.B. durch Verkauf oder Vererbung. Heute hat sich die Bedeutung des Wortes im Sinn eines „kulturbildenden Prozesses“ verändert. Wenn Generationen ihre Handwerkstechniken, Künste, Bräuche, Gepflogenheiten, Glaubensvorstellungen und Konventionen an eine nächste weitergeben, entsteht „Tradition“ (lat. tradere: hinübergeben, weitergeben). Als Tradition wird dabei sowohl der Akt der Weitergabe wie auch dessen Inhalt bezeichnet. Dieser Weitergabeprozess kann mündlich oder schriftlich, streng ritualisiert oder locker spielerisch geschehen. Traditionsbildung beginnt schon im Tierreich, etwa bei Krähen und Schimpansen, und kann im menschlichen Umfeld komplexe Formen in Sprache, Wissenschaft und Gesellschaft annehmen. Ohne Tradition ist Kulturbildung nicht denkbar – keine Generation ist in der Lage, sich neu zu erfinden. Soziologische gesprochen bildet Tradition kulturelle Leitmuster („guilding patterns“) aus und lässt auf diese Weise die Vergangenheit in die Gegenwart hinein wirksam werden.

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Offene und Geschlossene Gesellschaft

Unter einer „offenen Gesellschaft“ wird heute landläufig eine Gesellschaft verstanden, die ihren einzelnen Mitgliedern durch ein liberales, plurales Wertesystem so viel Entfaltungsmöglichkeit wie möglich zugesteht und ausdrücklich offen ist für Menschen, die sich diesem Lebensmodell anschließen möchten. Im engeren Sinn entstammt der Begriff „offene Gesellschaft“ der Philosophie Karl Poppers, der damit bereits 1945 ein demokratisches Gesellschaftmodell skizziert, in dem die Macht des Staates so weit wie möglich geteilt werden muss, um Missbrauch zu verhindern und die „kritischen Fähigkeiten des Menschen“ freizusetzen. Damit sich offene Gesellschaften kulturell entfalten können, braucht es – so Popper schon 1945 – Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie eine religiöse Neutralität des Staates.

Die Feinde der „offenen Gesellschaft“ sind totalitäre Gesellschaftsformen wie Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus. Sie vertreten eine „Geschlossene Gesellschaft“, die sich unvermeidlich in eine bestimmte historische Richtung zu bewegen hat. Statt durch einen pluralen und intellektuellen Meinungsaustausch wird die Gesellschaft durch den intoleranten Machtanspruch einer Elite, z.B. einer Partei, vorangetrieben. 1944 hat bereits Jean-Paul Sartre ein Theaterstück „Geschlossene Gesellschaft“ (huis clos) genannt.

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„Multikulti“ oder „Leitkultur“?

Auch Wörter haben ihre Geschichte. In besonderer Weise gilt das für unsere beiden Kontrahenten „Multkulti“ und „Leitkultur“. Ursprünglich trockene Konzeptbegriffe aus den Studierstuben der Soziologen und Politologen, haben sie sich in Windeseile emotional hoch aufgeladen.

Der sperrige Begriff „Multikulturalismus“ ist ein sozialphilosophischer Theorieansatz, der davon ausgeht, dass die meisten modernen Staaten de facto von einer Vielfalt ethnischer, kultureller, sexueller und religiöser bzw. areligiöser Anschauungen geprägt sind und diese Staaten eine solchen Wertepluralismus auch schützen und pflegen sollten. Diese Anschauung lehnt eine dominante Nationalkultur ebenso ab wie die US-amerikanische Vorstellung vom „melting pot“, einem Schmelztiegel, in dem sich alle Kulturen amalgamisieren und zu einer neuen Kultur vereinen sollten.

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Identität, Identitätskrise, Identitätsverlust

„Feste und Bräuche stärken unsere Identität!“
„Oktoberfest und Lederhose gehören einfach zur bayerischen Identität!“
„Wenn das so weitergeht, verlieren wir noch unsere Identität!“

 

Kaum eine touristische oder heimatpflegerische Broschüre, die nicht auf den markigen Begriff „Identität“ verzichten will. Dabei gehört er eher zu den schwierigen, in der Philosophiegeschichte heftig diskutierten Themen. Was bedeutet Identität für einen Einzelnen? Was für eine soziale Gruppe? Gibt es so etwas wie eine nationale Identität? Brauchen wir überhaupt Identität und Identifizierung?

Nebenher gesagt: Der Begriff „Identität“, der sich vom lateinischen Wort „idem“ (dasselbe) ableitet, wird auch in der Mathematik und in der Logik verwendet. Damit wollen wir uns aber hier nicht beschäftigen. Schon der psychologische Begriff ist kompliziert genug, aber wir wollen uns nicht entmutigen lassen!

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Heimat und Heimaten

Der juristische Heimatbegriff

Wenn unser heutiger Heimatbegriff für viele Menschen mit einer romantisch-nostalgischen Note verbunden ist, so ist das ein eher neuzeitliches Gefühl. Die harten Lebensbedingungen, in der die meisten unserer Vorfahren lebten, ließen solche Emotionen kaum zu. Heimat, das war zuerst ein nüchterner Begriff der existentiellen Grundversorgung. Das historische „Heimatrecht“ beschrieb die Zugehörigkeit einer Person zu einer bestimmten Gemeinde und damit den Anspruch auf ungestörten Aufenthalt, auf Armenpflege im Falle der Not und auf das Recht der Eheschließung. Im Wörterbuch der Gebrüder Grimm von 1877 wird Heimat als „Landstrich, wo man bleibendes Aufenthaltsrecht hat“ definiert. Das Prozedere um das Heimatrecht war wenig romantisch. Es wurde nicht kostenlos verliehen, musste hart und teuer erworben und durch eine amtliche Urkunde bestätigt werden. Wer sich das nicht leisten konnte, war in vielen Fällen Gemeindebürger zweiter Klasse, durfte z.B. keine Familie gründen, kein eigenes Gewerbe ausüben und nicht zur Wahl gehen, auch wenn er seit Generationen im Dorf lebte. Erst im späten 19. Jahrhundert wurde das Prinzip des Heimatrechts durch das Recht auf Freizügigkeit und durch das Sozialstaatsprinzip abgelöst. Übrigens war bereits das Heimatrecht seinerzeit ein sozialer Fortschritt, denn zu Zeiten des ungeregelten Feudalismus konnte der Grundherr seine Hintersassen jederzeit „abstiften“, also von Haus, Hof und Dorf in die bitterste Armut jagen. Viele Städte und Märkte haben heute noch Viertel mit dem Namen „Im Elend“. Dort hausten die Fremden und Reisenden, die „Verganteten“ und „Stiften Gegangenen“.

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