Zum Hauptinhalt springen

NACHTFAHRT

Norbert Göttler
NACHTFAHRT

Süßer die Glocken nie klingen. Stille Nacht, heilige Nacht. Seit Jahren das gleiche Ritual. Erst nicht daran gedacht. Es wie immer lächerlich gefunden. Einige Anrufe getätigt. Gleichgültigkeit auf beiden Seiten der Leitung. Nur die Alten werden rührselig. Alten Menschen soll man die Sentimentalität lassen. Kinder gibt es nicht mehr in der Familie. Schluss mit Lametta und Sternwerfern. Bis sechs gearbeitet. Sowieso keiner daheim. Sich mit Arbeit zugedeckt, an Wichtigeres gedacht. Ab sofort Urlaub, runterkommen, Ruhe geben. Aber wie? Zum zehnten Mal die Wohnung gestöbert. Gesaugt, gewischt. Für was? Für wen? Die Wohnung ist ohnehin blitzblank. Wer sollte sie verschmutzen? Das Auto könnte man noch reinigen. Aber hernach geht’s ohnehin durch den Matsch. Wozu also? Zu Bethlehem geboren. Zum Ritual gehört die Spritztour. Wenn immer es das Wetter zulässt. Aber erst, wenn die Nacht hereinbricht. Wenn die Lichter in den Fenstern zu leuchten beginnen. Dem Spießertum ins Auge blicken. Respektive in die sternenfunkelnden Thermopenfenster. Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter. Wieso eigentlich Blätter? Schon als Kind penetrant diese Frage gestellt. In der Arbeit das Standardpaket entgegengenommen. Süßen Glühwein getrunken. Plätzchen aus dem Supermarkt. Einer blickt durch den anderen hindurch. Ist froh, dass der Akt zu Ende geht. Endlich Urlaub, immerhin Ruhe. Rituale braucht der Mensch, heißt es jetzt überall. Einverstanden. Die Spritztour ist auch ein Ritual. Aber noch ist´s zu früh. Die Leute hasten noch nach letzten Geschenken. Noch haben einige Läden geöffnet. Der Punkt muss erreicht werden, wenn das öffentliche Leben zum Erliegen kommt. Wenn nur mehr einige wenige unschlüssig umherirren. Gegen acht etwa, oder halb neun. Dann knarrt die Welt in den Angeln. Dann gehört die Straße den Verlorenen.

Kommet ihr Hirten, so kommet doch all. Den Pennern gehören die offenen Feuer unter den Brücken, den Einzelgängern die wenigen offenen Kneipen. Und ein paar Sonderlingen gehören die Autobahnen. Oder wenigstens die Straßen durch die Vorstädte. Mit einem Schluck Whisky die billige Süße des Glühweins vertrieben. Jetzt könnte es schon gehen. Der Wagen steht ohnehin bereit. Heute sind gute Bedingungen. Kühl, aber nicht eisig. Kein Schneefall. Die Straßen sind trocken. Es ist ein Ros´ entsprungen aus einer Wurzel zart. Das Innere des Wagens gibt Sicherheit. Alles ist an seinem Platz. Langsam erwärmt die Sitzheizung das Leder. Geborgenheit. Heute keine laute CD-Musik wie sonst, sondern Radio. Weihnachtsprogramm. Gehört zum Ritual. Motetten und Choräle. Regensburger Domspatzen. Langsam die Straße entlang rollen, links und rechts helle Fenster. Sterne blinken darin, rot, grün und blau. Dahinter schon erste Bescherungen? Bisweilen ein Christbaum. Leuchtende Kinderaugen. Gibt es die noch? An den Supermärkten und Tankstellen stehen die Christbäume schon seit Wochen. Manche trällern elektronische Weihnachtslieder. Das Motorengeräusch vermischt sich mit den Schnulzen aus dem Lautsprecher. Soviel Gas geben, dass sich die hellen Wohnungsfenster zu einem bunten Lichterstreifen verwischen. Schön eigentlich. Wie jedes Jahr. Jedes Jahr? Wie war es früher? Als Kind? Als man den Weihnachtsabend schon tagelang nicht erwarten konnte? Oh Heiland reiß´ die Himmel auf. Lächerlich. Lächerlich, aber anrührend. Verschwimmt da nicht die Fahrbahn? Nieselregen? Oder sind es Tränen? Den Scheibenwischer anschalten. Warum heute so sentimental? Den Sender wechseln. Amerikanische Songs. Suzy Snowflake und Rudolph, the rednosed reindeer. So geht es besser. Jingle bells. Mahalia Jackson. Jetzt ist auch die Stadt zu Ende, und die Ausfallstraßen beginnen. Manchmal hier schon die Nase voll gehabt. Heimgefahren und ab in die Falle. Aber heute winken die blauen Autobahnschilder. Das Wetter passt. Also schnell an den Randstreifen und das Dach des Cabrios geöffnet. Ein Druck auf den Schalter und die Elektronik arbeitet. Kalter Lufthauch zieht herein. Heizung und Lüftung auf volle Leistung gestellt und die alte Wollmütze aufgesetzt. Dazu die Lederjacke. Das Ritual. Schneeflocken setzen sich auf das Armaturenbrett. Beim Losfahren pfeifen die Räder. Kaum mehr ein Auto auf der Straße. Die Einfahrt zur Autobahn vorne rechts. In welche Richtung? Egal. Süßer die Glocken nie klingen, dröhnt es aus den Boxen.

Der Asphalt singt zu den Weihnachtsliedern. Der Fahrtwind faucht. Maria durch den Dornwald ging. Der Zeiger des Tachometers steigt. Kyrie eleison. Die Abzweigung Richtung Frankfurt. Ringsumher Stille. Oh Heiland, reiß´ die Himmel auf! Eine einsame Fahrt durch die Nacht. Die heilige Nacht. Der Nachrichtensprecher berichtet vom Nahen Osten, der Bundespräsident verbreitet Staatstragendes. Immerhin redet jemand, immerhin eine menschliche Stimme. Man könnte mit jemandem telefonieren. Früher manchmal gemacht. Freisprechanlage. Aber wozu? Warum gerade heute und sonst nicht? In wenigen Stunden wäre man auf diese Weise in Hamburg. Am anderen Ende der Republik. Einen Morgenkaffee trinken an der Alster und dann zurück. Der Wagen lässt sich noch ein wenig beschleunigen. Hundertachtzig Sachen. Das laute Klopfen ist der Pulsschlag. Das Zeitgefühl geht verloren. Wie lange schon durch die Nacht gerast? Egal. Wenn nicht die Schilder an den Ausfahrten wären, würden sich Raum und Zeit langsam aufheben. Einmal die Fahrt bei Nebel gemacht. Nach drei Stunden jede Orientierung verloren. Durch eine Wattetraumwelt gerast. Aber auch heute steigt langsam das vertraute Gefühl auf. Nachtflug. Astronautengefühl. Zweihundert. Einsam durch das eisige All. Sinn und Ziel? Falsche Frage. Der Tod? Auch falsche Frage. Nicht jetzt. Nicht heute. Zweihundertvierzig Sachen. Ausfahrten wischen vorüber. Nur jetzt keine Baustelle! Nur nicht abbremsen müssen! Nur nicht aus dem Stück fallen. Vom Himmel hoch da komm ich her. Das All und die Sternschnuppe. Es ist dem All egal, wenn sie verglüht. Der Zeiger des Drehzahlmessers berührt den Anschlag. Der ganze Wagen vibriert. Was fühlt die Sternschnuppe, wenn sie verglüht? Sie kollabiert in ihre Bestimmung hinein. Zielgenau, konsequent. Bestimmung? Was ist das? Fühlt die Sternschnuppe so etwas wie Glück? Warum kleben wir so an falschen Fragen? Die Sitzheizung hält den Körper warm, nur das Gesicht ist gefühllos. Wie Geschoße treffen Eissplitter auf die Wangen und zerplatzen. Die rechte Hand liegt auf dem Arretierungsknopf des Sicherheitsgurtes. Die Tränen aus den Augenwinkeln gefrieren auf der Stelle. Stille Nacht, heilige Nacht. Für einen Moment die Augen geschlossen. Es ist gut für heute. Man sollte abbremsen. Man hat es doch wieder gespürt, das alte Gefühl. Das Astronautengefühl. Wie nahe sind sich Glück und Verzweiflung. Gib Ruhe und suche die nächste Ausfahrt. Warum gehorcht der Fuß nicht? Warum drückt er das Gaspedal bis zum Anschlag und lässt sich nicht bewegen? I´m dreamin´ of a white Chrismas. Schon wieder die Augen geschlossen. Für Sekunden nur, aber immerhin. Es pocht an den Schläfen. Alles hat seine Zeit. Eine Zeit zum Säen und eine Zeit zum Ernten. Der Wagen reagiert perfekt. Das leichte Schleudern lässt sich sofort korrigieren. Eigentlich ist es gut für heute. Lass es gut sein! Aber was heißt gut? Die Autobahn ist menschenleer. Die Leere in vollen Zügen spüren. Macht hoch die Tür, die Tor´ macht weit. Ja, Weite. Endlose Weite. Süßer die Glocken nie klingen. Was wäre, wenn? Wenn die Augen einfach geschlossen blieben? Was würde geschehen? Wohin würde alles geschehen? Alles eine Frage der Entscheidung. Der Motor hat einzelne Aussetzer. Der Pulsschlag an den Schläfen auch. Die Finger der rechten Hand spielen nervös mit dem Arretierungsknopf des Sicherheitsgurtes.

Wie lange hat es gedauert, bis der irritierende Lichtpunkt ins Bewusstsein gerückt ist? Sekunden? Minuten? Das Gebrodel der Gedanken ist abgeklungen, geblieben ist das monotone Dröhnen des Motors bei voller Drehzahl, das gelegentliche Rütteln der Karosserie, wenn sie von einer eisigen Bö erfasst wird, und das entfernte Wimmern der Weihnachtsmusik im Radio. Sonst nichts. Kein Aufbegehren, keine Wehleidigkeit. Nichts. Gott ist das Nichts. Was ist nur dieser Lichtpunkt? Er dringt unbarmherzig in die Pupille, reizt den Sehnerv und stört die Konzentration. Er ist ein Fremdkörper, der sich nicht abschütteln lässt. Er wird größer, präsenter. Ein kaltes, glasklares Licht mit einer metallblauen Komponente. Das Gehirn schickt die Pupillen auf Suche. Sie zucken und lösen sich nur ungern vom schwarzen Band des Asphalts. Sie sind träge und brauchen Zeit. Jetzt haben sie den Fremdkörper ausgemacht Das Gehirn zwingt sie zum Dienst. Der Lichtpunkt kommt von hinten. Reflektiert vom Rückspiegel fällt er auf den Fahrer, durchbohrt ihn und seine Träume. Zweifellos, es ist der Scheinwerferstrahl eines Autos, der in den Spiegel fällt. Einen Moment will das Gehirn am Mythos seiner kompletten Isolation festhalten, dann muss es kapitulieren. Ein zweites Fahrzeug ist unterwegs, gesteht es sich ein. Der Lichtstrahl nähert sich Sekunde für Sekunde. Ein Blick auf den Tachometer. Das Fahrzeug im Rücken muss mit unglaublicher Geschwindigkeit unterwegs sein. Schon sind die beiden Scheinwerfer getrennt voneinander zu sehen. Sich zur Konzentration zwingen. An den Händen bildet sich kalter Schweiß. Der Wagen rüttelt und vibriert. Jetzt blinken die Lichter im Rücken kurz und hart auf. In letzter Sekunde auf die mittlere Fahrbahn gesteuert. Dann verschwinden die fremden Lichter am linken Heck, wie ein Torpedo schießt das Fahrzeug auf der Überholspur vorüber. Für einen Moment aus dem Seitenfenster geblickt. Für einen Moment die Augen des Schicksalsgefährten gesucht. Keine gefunden, die Seitenfenster sind stark getönt. Mühelos ist der schwere Sportwagen vorüber geglitten. Schon sind die roten Rücklichter zu sehen. Ein Handumdrehen und der Spuk ist vorüber. Gekommen aus dem Nichts, verschwunden ins Nichts. Eigentlich müsste der Wagen längst über alle Berge sein. Warum ist er das nicht? Warum wird die Entfernung zum Gegenüber nicht größer, sondern wieder kleiner? Hat der Fahrer seine mörderische Geschwindigkeit etwa abgebremst? Jetzt sind die beide Autos wieder auf gleicher Höhe. Wie lange fährt man so nebeneinander her? Sekunden? Minuten? Ein Zwillingspaar, unterwegs durch die Unwirklichkeit. Das Gegenüber ist nicht zu erkennen und doch für einen Moment zu spüren. Der kairós, so würden die Griechen diesen Augenblick nennen. Und schon ist der Moment wieder vorüber. Der Wagen auf der Außenspur scheint sich aufzubäumen. Schon schiebt er sich vorüber. Nur mehr die Rücklichter sind zu sehen. An ein Mithalten ist nicht zu denken. Die roten Lichter werden kleiner. Die Autobahn macht eine leichte Kurve und der Wagen ist wie ein Irrlicht in der Nacht verschwunden. Der Radiosprecher kündet das Ende des Weihnachtsprogramms an.

Die Straße ist so einsam wie ehedem. Im Asphalt spiegeln sich die bunten Phantasieschlieren der Ölspuren. Leichter Schneefall hat eingesetzt. Liegt es daran, dass sich der alte Rausch nicht mehr einstellen will? Plötzlich nüchtern geworden, sogar ein wenig heiter. Weihnachten. In langsamer Fahrt dahinrollen. Das Verdeck schließen, um der nassen Kälte Herr zu werden. An der nächsten Ausfahrt wenden und dann zurück. Die Geschwindigkeit hat ihren Reiz verloren. Der fremde Fahrer will nicht aus dem Kopf. Warum diese innere Unruhe? Einem anderen Menschen begegnet. Welche Einsamkeit hat ihn getrieben? Ein Zucken, jedes Mal, wenn sich der Verkehrsfunk meldet. Keine besonderen Vorkommnisse, sagt er. Im ganzen Bundesgebiet gute Straßenverhältnisse. Keine Unfälle oder Stauungen in der Nacht der Nächte. Stille Nacht, heilige Nacht. Wie lange dauert es, bis ein Unfall gemeldet wird? Manche Unfälle werden erst nach Stunden entdeckt. Manche Unfallopfer fehlen niemandem. Besonders in der Weihnachtsnacht.