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STERNE ÜBER DEM MITTELMEER

Norbert Göttler
STERNE ÜBER DEM MITTELMEER

Schwere Wolken löschen die Sterne aus. Er beugt sich zur Erde hinunter. Er sucht die Lichter der Dörfer, Glühwürmchen im Gras. Aber nichts glitzert aus schwarzer Flur herauf. Missmut steigt in ihm auf, als ahne er eine mühselige Nacht.
„Ja, Tower, natürlich bin ich noch über dem Mittelmeer! Wo soll ich denn sonst sein? Über dem Pazifik, oder was? Wir sind verspätet, ja, ich weiß. Aber keine Sorge, ich höre keine Beschwerden von hinten. Was? Ob ich schon was vom Nachtlandeverbot gehört habe? Mein Lieber, wissen Sie, mit wem Sie sprechen? Sie sprechen mit LH 314, alles klar? LH 314. Na, endlich kapiert, Tower! Melde mich später, Tower. Ende, over…“
Krachend bricht der Kontakt ab, das Bordmikrophon baumelt lange an seinem Spiralkabel.
Verdammte Idioten! Diese Begriffsstutzigkeit! Immer wieder ein anderer Esel an der Leitung und keiner eine Ahnung von irgendetwas! Als ob man hier zum Spaß mutterseeleallein in der Finsternis herumgurkt! Einmal Mist gebaut und schon fliegt man jahrelang diese Elendskiste! Früher nur vom Hörensagen gekannt. Irgendwann wurde davon gemunkelt…
Der Flugkapitän verpasst dem Mikrophon einen Fußtritt und nestelt in der Brusttasche der Uniformjacke. Ohne Whisky ist das hier kaum zu ertragen. Normalerweise streng verboten, logo. Aber was ist normal hier, fragt man sich. Natürlich ist das nicht normal für einen, der mal drei goldene Sterne auf seinen Schulterklappen hatte. Verdammter Fusel, schon wieder fast zu Ende!
Die Höhenzüge, tief unter dem Flugzeug, graben schon ihre Schattenfurchen ins Gold des Abends. Die Ebenen glimmen, sie können sich nicht entschließen, ihr Gold herzugeben.
Der Kapitän wirft einen Blick in Saint-Exuperys „Nachtflug“, das schäbig auf dem leeren Copiloten-Sitz liegt. Aber seine Gedanken schweifen ab. Bewährung? Lächerlich! Seit drei Jahren dreht er jetzt diese Geisterrunden! Wie der Fliegende Holländer. Bei wem soll man sich da bewähren? Bei denen da hinten? Der Kapitän lacht bitter, während er nach dem Bordmikrophon sucht.
„Sehr geehrte Damen und Herren in den Passagierräumen!“, so knarrt es jetzt zynisch aus den Bordlautsprechern. „Wir haben nun unsere geplante Flughöhe erreicht und befinden uns nun über dem offenen Meer zwischen Palma und Marseille. Ich hoffe, Sie haben einen angenehmen Flug und genießen den prachtvollen Sternenhimmel!“
Wieder das kehlige Lachen des Flugzeugführers, unterbrochen von heftigem Husten. Die Sterne? Welche Sterne? Diesiger Himmel heute. Zähe Milchsuppe. Wie meist auf dieser Strecke. Ein Monat die Runde um´s östliche Mittelmeer, ein Monat um´s westliche. Rund fünfzehn Starts und Landungen. Propellermaschine. Nebenlandebahn, selbstverständlich. Fabien irrt über dem Glanz eines Wolkenmeeres umher, aber tiefer unten ist die Ewigkeit. Er ist verloren zwischen den Sternenbereichen, deren einziger Bewohner er ist. Die Nacht erscheint ihm öd und leer wie ein Theater ohne Schauspieler. Fahr zur Hölle, Saint Ex! Der Käpt´n wirft das zerlesene Taschenbuch zur Seite. Glanz über dem Wolkenmeer, dass ich nicht lache! Der einzige Bewohner dieser Hölle, das trifft es schon eher. Keine Menschenseele weit und breit. Keine Menschenseele in diesem verdammten Fluggerät. Seelen vielleicht, ja, aber was soll das sein, zum Teufel? Der Käpt´n nimmt einen Zug aus der Whiskyflasche.

In diesem Moment hört er hinter sich ein Quietschen. Entgeistert starrt er auf die kleine Klinke aus Aluminium, die sich langsam nach unten bewegt. Die Kabinentüre öffnet sich einen Spalt. Holla, etwa der verdammte Whisky? Nein, er reibt sich die Augen. Ein fremder, junger Mann hat tatsächlich Kopf und Oberkörper durch die Türöffnung gezwängt und lässt seine Augen durch das Cockpit schweifen.
„Wo kommen Sie denn her?“, ruft der Kapitän. „Was machen Sie, verdammt noch mal, in meiner Maschine?“
„Ganz ruhig bleiben, Alter!“ flüstert der Eindringling. „Keine abrupten Bewegungen! Wir wollen doch nicht abstürzen, wir beide?“ Dabei hebt er eine kleine Pistole, die metallisch glänzt.
Die Augen des Kapitäns werden schmal. „Lassen Sie Ihre dummen Sprüche!“ sagt er mit belegter Stimme. „Wir stürzen nicht ab. Regelt alles die Automatik. Aber jetzt raus mit der Sprache, was wollen sie hier?“
„Nur keine Eile, wir haben Zeit. Unsere Passagiere haben auch Zeit. Viel Zeit!“
„Unsere Passagiere? Was meinen Sie?“
„Kompliment, die vertrauen Ihnen völlig. Keine Spur von Flugangst. Liegen da, als ob sie alle schlafen…Wenn man den Deckel öffnet!“
„Den Deckel?“
„Tun Sie nicht so! Käpt´n Totenflieger!“
„Woher wissen Sie…“
„Jeder in der Branche weiß das! Einmal in der Woche fangen Sie die toten Touris zusammen, die sich in der Saison rund um´s Mittelmeer ansammeln. Herzinfarkte, Altersschwächen, Vergiftungen, Sonnenstiche… Gibt ´ne hübsche Gesellschaft jedes Mal. Sobald die Staatsanwälte sie freigeben.“
Der Kapitän ist sprachlos.
„Sie sagen ja gar nichts, Käpt´n. Muss ja auch jemand machen. Ist ja keine Schande! Die Touristikunternehmen wünschen eine geräuschlose Abwicklung, stimmt´s?“
„Na, Sie sind ja gut informiert!“, murmelt jetzt der Kapitän. „Aber Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was Sie wollen? Wollen sie mich entführen?“
„Nein, kein Interesse. Wer würde für Sie denn was bezahlen?“
„Also, was dann?“
„Von Ihnen will ich gar nichts. Nur ein wenig Unterhaltung nach all der Mühe.“
„Welche Mühe, Mann?“
„Na, glauben Sie, ich bin zum Vergnügen auf Ihrem Kutter? Ich bekomme schließlich kein regelmäßiges Gehalt überwiesen wie Sie!“
„Sie schweifen ab. Was haben Sie in der Kabine getrieben?“
„Ich habe, sagen wir es mal so, mich ein wenig um die Herrschaften bemüht.“
„Wie zum Teufel meinen Sie das?“
„Ihre Passagiere benötigen in ihrer Situation manches nicht mehr, was sie törichterweise auf ihre Reise mitgenommen haben.“
Der Kapitän starrt auf den Eindringling.
„Sie…haben?“
„Ich habe!“
„Sie haben die Koffer geöffnet und…“
„Nicht nur die Koffer!“
„Nicht nur die Koffer?“
„Vor allem die Damen tragen Ihre Schätze auch gern im Angesicht des Todes…“
„Sie meinen…?
„Gott sein Dank sind die provisorischen Särge ja nur leicht verschlossen. Zwei Stunden Arbeit seit unserem Abflug in Sevilla, geschätzte zwei Kilo Brillianten, Gold und Perlen.“ Er hebt ein kleines Säckchen in die Höhe. „Kein schlechter Stundenlohn, finden Sie nicht? Wie viel wirft Ihr Job denn so ab?“
„Sie sind wahnsinnig! Wie wollen Sie das Zeug in München durch den Zoll bekommen? Man wird Sie schon bei der Landung festnehmen!“
„Sie können mir behilflich sein! Gegen einen kleinen Anteil?“
„Ich denke nicht daran. Was fällt Ihnen ein!?
„Vergessen Sie es. War nur ein Scherz. Mit Ihnen teile ich nicht.“
Der Mann blickt jetzt wiederholt auf die Uhr und späht durch die Kajütenfenster in die Nacht.
„Langsam dürften wir so weit sein!“ sagt er. „Welche Position haben wir?“
„Die Position? Warum?“
Der Fremde hebt schweigend die kleine Pistole und der Kapitän beeilt sich, ihm die gewünschte Auskunft zu geben.
„Also noch drei Minuten etwa.“
„Drei Minuten, für was?“
Jetzt meldet sich in den Lautsprechern ein Krächzen. Ein fremder Tower hat die Maschine auf dem Radar. Der Kapitän blickt in die Mündung der Pistole und weiß, was er zu tun hat.
„Nein, alles in Ordnung, Tower“, sagt er mit belegter Stimme. „keine besonderen Vorkommnisse. Ruhiger Nachtflug, danke!“
Dann schaltet er das Mikro ab.
„Gut, Herr Kapitän“, nickt der Fremde. „Sehr professionell. Und jetzt öffnen Sie bitte die hintere Luke.“
„Ich soll…?“
„Die hintere Luke öffnen!“
„Sie sind völlig verrückt!“
„Sie sagten es bereits. Aber machen Sie sich um mich keine Sorgen. Fallschirm und Positionslicht habe ich im Gepäckraum deponiert, genau unter uns wartet mein Mitarbeiter mit einem Schnellboot. Teamwork ist in unserem Beruf alles, wie Sie wissen. Guten Flug noch, und entschuldigen Sie die Störung!“
Damit hebt der Fremde den Sack mit der Beute vom Boden, nickt und verschwindet, nicht ohne sorgsam die Kabinentür hinter sich zu schließen.

Angestrengt blickt der Kapitän der LH 314 eine ganze Weile durch das Seitenfenster seines Cockpits. Endlich erkennt er weit hinter sich ein kleines, rotes Licht. Wie eine Sternschnuppe sinkt es der bleiernen Fläche des nächtlichen Meeres zu.
„So was! Weg ist er!“ denkt sich der Käpt´n und greift zur Flasche. „Also, das habe ich auch noch nicht erlebt!“
Gedankenverloren starrt er hinaus in die Nacht. Lange Zeit hört er nicht das Knacken der Funkanlage und die Stimme aus dem Heimatflughafen. Dann setzt er mechanisch den Kopfhörer auf und greift nach dem Mikro. Ein Gegenüber meldet sich.
„Na endlich, wurde auch Zeit!“ flüstert der Kapitän in das Mikro. „Ist die Luft rein? Du wirst es nicht glauben, was passiert ist! Ein Verrückter hat unsere Passagiere ausgeraubt und ist mit der Beute aus der Maschine gesprungen!“
Am anderen Ende blieb es eine Zeitlang still.
„Was?“
Der Käpt´n lacht diabolisch.
„Für wen hältst du mich eigentlich? Natürlich ist mir der Idiot nicht zuvorgekommen! Ich mache meinen Job immer gleich nach dem Beladen! Eine Drecksarbeit, sag ich dir! Aber wieder fette Beute dieses Mal. Gold und jede Menge Klunker. Besonders die alten Tanten reisen an den Strand, als ob´s zum Wiener Opernball ginge!“
In den Ohren des Kapitäns krächzt es laut.
„Aber du musst dringend neuen Modeschmuck besorgen bis nächste Woche! Glasdiamanten, Katzengold und so weiter. Und dass mir alles echt aussieht! Sonst kommt uns doch mal ein nichtsnutziger Erbe auf die Schliche! Oder so ein Typ wie eben! Na, der wird mit dem Plunder jetzt schon gelandet sein! Jetzt hockt er mit seinem Komplizen im Boot und teilt brüderlich!“

Es knackt in seinem Ohr.
„Was sagst du? Klar, Mann, wir beide teilen auch, wie immer. Halbe, halbe. Das Codewort heißt: Sterne über dem Mittelmeer! Exupéry, wenn dir das was sagt!
Bis gleich, Tower. Ende, over!“