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DIE WEBER

Norbert Göttler
DIE WEBER

Eine unterirdische Weberei gäbe es zu besichtigen, sagte der seltsame Mann in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Dutzende von Fremdenführern hatten mich in den letzten Wochen schon angesprochen, doch ich hatte sie alle mit einem abweisenden Blick und einigen Handbewegungen vertrieben. Dieser Stimme aber konnte man sich nicht entziehen. Eine Weberei? Warum unterirdisch? Warum so eindringlich? Wer war der sonderbare Kerl? Ich war bis in diese nächtlichen Stunden einem der zahllosen Straßencafés gesessen, hatte Tee getrunken, Wasserpfeife geraucht und die Zeit an mir vorüber streichen lassen. Die Zeit? Zwei Wochen in diesem heißen, vergessenen Land – und man verlor jeden Zeitbegriff. Die Bewegungen der Menschen, der Tiere, der Gestirne – sie folgten einem anderem Lauf als dem der westlichen Uhrzeiger. Jeder hier schien auf irgendetwas zu warten. Auf Kundschaft vielleicht. Auf den Enkel mit dem Tee. Auf den Zeitpunkt, da die Sonne hinter dem Minarett hervortrat und Wärme spenden würde. Oder warteten sie auf etwas Höheres, Abstrakteres? Auf den nicht wieder kehrenden Augenblick, den die Griechen „kairós“ nannten und als Gott verehrten? Auf den Augenblick, der ihr Leben verändern würde? Manche Dinge im Leben besitzen nur einen einzigen „kairós“, sagen sie. Lässt man ihn ungenutzt verstreichen, ist alles in alle Ewigkeit vertan.
Verwirrt und noch halb meinen Gedanken nachhängend starrte ich den Fremden an. Was wollte er von mir? Keinen der vielen Touristen hatte er eines Blickes gewürdigt, schnurstracks war er auf mich zugegangen. Von Bezahlung war nicht die Rede gewesen, auch nicht von der Dauer der Führung. Noch etwas benommen von der Hitze und dem starken Tabak der Wasserpfeife zögerte ich. Etwas in mir sträubte sich dagegen, diesem Sonderling, dem eine lange Locke in die Stirn hing, zu folgen. Und doch zog mich etwas in seinen Bann. Wortlos raffte ich mich auf.
Niemand um uns herum schien unsere seltsame Verabredung zu bemerken. Man schacherte und feilschte, lachte und scherzte. Einige der halbwilden Hunde um uns herum zogen ihre Schwänze ein und begannen zu winseln. Der Fremde eilte voran, ich hatte Mühe ihm zu folgen. Jetzt, da er mir vorauseilte, sah ich, dass er einen kahlen Hinterkopf besaß, der so gar nicht zu seiner Stirnlocke passen wollte. Nicht ein einziges Mal wandte er seinen Blick zurück. An einer Straßenecke verlor ich ihn in der Dunkelheit für einen kurzen Moment aus den Augen. Ich hätte jederzeit zu meinem Hotel zurückgehen können, dennoch tat ich es nicht. Tausende von Ewigkeiten braucht der „kairós“, um sich zu entwickeln, so fuhr es mir durch den Sinn. Um aus dem Gespinst der Möglichkeiten hervorzutreten, Gestalt anzunehmen und sich einem Menschen anzubieten. Und dann? Zugegriffen ist zugegriffen, vertan ist vertan.
Mein Herz klopfte und ich starrte in die Menschenmenge. Da, plötzlich, weit entfernt, am anderen Ende der Straße erkannte ich im Schein einer Laterne seine hagere Gestalt. Er ging seinen Weg, ohne sich auch nur einmal umzudrehen. Ich musste laufen, um ihn einzuholen. Dabei rempelte ich mehrere Passanten an und fand keine Zeit mich dafür zu entschuldigen. Ganz außer Atem erreichte ich meinen Führer, der mich keines Blickes würdigte. Es war nicht erkennbar, ob er mein Zurückbleiben überhaupt bemerkt hatte. Er schien der einzige Mensch dieser Stadt zu sein, der Eile hatte.
Wir waren schon ein ganzes Stück vom Stadtkern entfernt, die Häuser machten einen verkommenen Eindruck. „Ist es noch weit?“ fragte ich keuchend und war doch nicht überrascht, keine Antwort zu bekommen. Noch hätte ich dieses Experiment abbrechen können, doch die magnetische Anziehungskraft, die der Fremde auf mich ausübte, steigerte sich unaufhaltsam. Endlos kam mir die Strecke vor, die wir, fast im Laufschritt, hinter uns brachten, aber auf einmal blieb der Fremde mit einer abrupten Bewegung stehen. „Wir sind da!“ sagte er und deutete auf ein unscheinbares, graues Haus. „Hier?“ fragte ich atemlos und mit kaum verhohlener Enttäuschung. Der Angesprochene antwortete nicht. Ohne zu klopfen öffnete er die Haustüre und ging voraus. Wir mussten uns beide bücken, um eintreten zu können.
Der Flur war so finster, dass ich kaum etwas erkennen konnte. Fast wäre ich über die abgenutzten Steinfließen am Boden gestolpert. Ich folgte fast blind den Umrissen des Mannes. Er schien sich hier auszukennen. Nach wenigen Schritten öffnete er mit sicherem Griff die Türe zu einem weiteren dunklen Raum, den wir ebenso durchquerten wie den ersten. „Sind Sie sicher, dass hier eine Weberei sei soll?“, frage ich zögerlich. „Natürlich bin ich mir sicher!“ antwortete mein Gegenüber streng. „Wir müssen die alte Wendeltreppe benutzen.“ Ich schwieg betreten. Am Ende des leeren Raumes erkannte ich ein Geländer, darunter eine dunkle Öffnung in die Tiefe – offenbar die besagte Wendeltreppe.
Der Fremde ging wortlos voran und ich folgte ihm. Wir begannen, die Treppe hinab zu steigen. Die Stufen waren glitschig und unregelmäßig hoch. Viele von ihnen waren nach vorne geneigt. Einen Handlauf gab es nicht, ich musste mich an den rauen Wänden links und rechts festhalten so gut es ging. Ein Fehltritt, und ein fürchterlicher Sturz wäre die Folge gewesen. Je tiefer wir stiegen, desto steiler kam mir die Treppe vor. Konnte man auf ihr je wieder an die Oberfläche zurückgelangen? Ich wusste es nicht. Die Konzentration darauf, nicht zu stolpern, verscheuchte meine Bedenken. Schließlich musste ich mich auf die nassen und kalten Stufen setzen, um mit den Zehenspitzen die nächsten zu erreichen. Mein Vordermann war mir nicht behilflich. Er war bereits mehrere Windungen vorausgegangen und nicht mehr zu sehen.
Ich hatte aufgehört, die Stufen zu zählen, als sich fahles, bläuliches Licht auf das Mauerwerk legte. Die Treppe weitete sich. Nur langsam gewöhnten sich meine Augen an die neue Umgebung. Wir waren in eine riesige unterirdische Halle gelangt, so groß, dass ich ihre Enden nicht ermessen konnte.

In der dunstigen und halbdunklen Ferne verlor sich der Raum scheinbar ohne begrenzende Wände oder Mauern. Zu meinem Erstaunen fand ich in dieser unterirdischen Halle reges menschliches Treiben vor. Hunderte, vielleicht tausende von grauen Gestalten liefen hin und her, gestikulierten, trugen Ballen und Säcke, schleiften schwere Gegenstände am Boden. Andere standen dicht gedrängt in ewig langen Schlangen, oder ordneten sich zu immer neue Formationen. Mein Führer gebot mir mit einer Handbewegung, keine Fragen zu stellen. Ich starrte auf die Szenerie, die mir rätselhaft blieb.
Was ging hier vor? War das die angekündigte Weberei? Tatsächlich konnte man mitten in dem Gewimmel einen Mechanismus entdecken, der Ähnlichkeit mit einem altmodischen Webstuhl aufwies, nur viel überdimensionaler, komplizierter, bedrohlicher. Übermannshohe Zahnräder bewegten sich, Kurbelwellen und Riemenscheiben. Ein Gewirr von Fäden lief in Walzen zusammen, floss ineinander, verwirbelte sich, verschwand im Inneren der Maschine, um an anderer Stelle gewoben und verflochten wieder zum Vorschein zu kommen. Immer breiter wurden die Bahnen aus Stoff, in immer neuen Verknüpfungen wurden die Fäden und Stränge miteinander verschlungen. Das Ganze vollzog sich in wahnwitziger Schnelligkeit. Der Stoff, der hier gewebt wurde, hatte keinen Anfang und kein Ende. Überall quoll er aus der Maschine hervor, bunt schillernd, irisierend, komplizierte Ornamente und Muster bildend, um sich schließlich in allen vier Himmelsrichtungen zu verlieren. An der Stelle, an der er die Maschine verließ, bildeten seine Fäden ein kleines Dreieck…
Nun war das so entstandene Gewebe keineswegs homogen zu nennen. Es hatte dickere und dünnere Stellen, schien immer wieder von unterschiedlicher Konsistenz zu sein und führte sonderbare Einschlüsse mit sich. Der ganze Produktionsvorgang ging dabei beileibe nicht reibungslos vor sich. Immer wieder kam es zu Stauungen des Stoffes, die Bahnen wellten sich, stockten, verhedderten und überlagerten sich.

Dann sprangen auf der Stelle Dutzende der grauen Gestalten herbei, zerrten an den Stoffteilen, zogen sie von der Maschine weg, brachten ihren Fluss mit Mühe wieder in Bewegung. Sie legten dabei eine Geschäftigkeit an den Tag als kämpften sie um ihr Leben. Möglicherweise war es auch so, denn der gigantische Webstuhl spuckte unbeirrt seine Bahnen aus. Eine Konfusion, eine kurze Stockung – nur wenige Augenblicke hätten genügt, selbst diese riesige Halle vollkommen zu füllen und alles Leben darin zu ersticken.
Ich stand wie gebannt vor dem Schauspiel und rührte mich nicht. Bei aller Emsigkeit war in der Halle kein Laut zu hören, die Arbeit ging vollkommen still vor sich. „Hier bedarf man der Töne nicht“, sagte der Fremde, als hätte er meine Gedanken geahnt. „Hier wird die Zeit gewoben.“ „Die Zeit?“ flüsterte ich, doch auf Nachfragen pflegte mein Gegenüber nicht einzugehen. „Aber wie kann man… woraus besteht denn…?“
Ich kam nicht dazu, mein Gestammel zu beenden, als mich der Fremde schon am Arm zog und mich näher an die Zeitmaschine heranführte. Dazu mussten wir eine schmale Gasse zwischen den wabernden und rollenden Stoffmassen einhalten. Links und rechts von uns mühten sich aschgraue Arbeiter unentwegt, den Fluss der Stoffbahnen am Laufen zu halten. Lautlos und gespenstisch arbeitete die Mechanik des Webstuhls, an den wir jetzt dicht herangekommen waren. Auch im Inneren seines vibrierenden Bauches sah ich jetzt Arbeiter, die, auf eisernen Plattformen stehend, mit Schiebern und Stöcken die Garnstränge und Stoffbahnen zu lenken versuchten.
Der Fremde zerrte mich vorwärts, denn ich war wie angewurzelt stehen geblieben. Die Maschine stampfte, bebte und zitterte unaufhörlich. Wir umrundeten sie und tasteten uns eng an ihren eisernen Wänden entlang. Endlich hatten wir die rückwärtige Front erreicht. Mit großem Erschrecken sah ich, in welcher Weise dieses Monstrum an Maschine gespeist wurde! Hinter ihr türmte sich eine gigantisch hohe Halde auf, deren Gipfel ebenso unübersehbar war wie die Weite der Halle. Bei näherem Hinsehen erkannte ich: Diese Halde bestand aus allem, was das Leben oben auf der Welt zu bieten hatte: Baumstämme und Blumen, Bücher, Balken, Dächer, ja ganze Häuser und Straßenzeilen, Kamine und Fabriken. Der Berg, der auf diese Weise aufgeschüttet war, war unübersehbar, mächtig, glitzernd und bunt. In seinem Inneren schien er zu pulsieren und zu atmen wie ein prähistorisches Tier.
Überall war er in Bewegung, überall rutschte und rollte etwas. Alles an ihm suchte nur eines – den Weg in den Webstuhl! Riesige Schaufelräder kratzten und schabten an den Flanken des Berges, füllten ihre Behälter mit allem was sie erreichen konnten und beförderten das Material in das Innere der Maschine, wo es lautlos zerkleinert, zermalen und in seine Bestandteile zerlegt wurde. Keine Faser, kein Stäubchen ging verloren, alles mündete im eisernen Rachen dieser seltsamen Maschine. Aber auch die Relikte gelebten menschlichen Lebens wanderten in den Fluss, der sich unaufhaltsam auf den Webstuhl zu bewegte: Kleidung und Kinderwägen, Särge, Autos, Kuckucksuhren, Computer und Geschirr.
Und nun sah ich noch etwas: Auch die scheinbar ewig langen Schlangen der grauen Menschen hatten diesen Heiligen Berg zum Ziel. Sie schlängelten sich durch das Dunkel der Halle, verschwanden hinter ihren Säulen und Windungen, um dann urplötzlich wieder aufzutauchen. Offenbar standen die Menschen schon stunden, ja, tagelang in dieser Schlange, rückten Zentimeter für Zentimeter vor. Schweigend, Schritt für Schritt, wanderten sie in endlosen Serpentinen den Berg hinauf. Erst ganz oben vereinigten sich diese Ströme menschlichen Lebens. Nur drei oder vier Gestalten fanden gleichzeitig auf dem Plateau Platz, das sich etwas auf halber Höhe der Halde befand. Wer ganz vorne angekommen war, dem trat wohl für einen Moment die ganze Mächtigkeit des Berges vor Augen.
Ahnte ich das innere Beben dieser Menschen, als sie erstmals den Blick in die Tiefe warfen, oder konnte ich es noch auf diese weite Entfernung hin erkennen? Wie Artisten auf einem weit entfernten Hochseil hielten sie inne, starrten erschreckt und fasziniert zugleich auf die gewaltige Szenerie, um im nächsten Moment zu fallen, zu rollen, von Steinen, Bäumen und Dächern überschüttet zu werden, wieder zum Vorschein zu kommen, um nach einer Weile endgültig im Berg zu versinken. Jede einzelne dieser Kreaturen, die sich in den unendlich vielen Schlangen den Berg hinaufbewegte, kam irgendwann an die Reihe, wurde verwandelt, verwoben, vermengt. Mir wurde sonderbar bang und ich war nahe daran zu fliehen.
Ich wandte mich um. Mein Begleiter mit der Stirnlocke und dem kahlen Hinterkopf sagte kein Wort, sondern nickt nur. Ich zitterte, aber eine selten erfahrene Klarheit berührte mich. Gott Kairós, er ist es selbst, so fuhr es mir durch den Sinn! Gott Kairós, der nicht mehr zu fassen ist, sobald er einmal vorübergegangen ist.
Noch einmal nickte mein seltsamer Gefährte. Ich blickte auf den Webstuhl und die schillernden Stoffbahnen, die er produzierte. Ich blickte auf die Menschen, die langsam den Berg hinauf schritten. Dann fasste ich mir ein Herz, atmete tief durch, lächelte, ging auf die nächste Menschenschlage zu – und nahm meinen Platz darin ein…