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DIE SCHRIFTSTELLERIN

Norbert Göttler
DIE SCHRIFTSTELLERIN

Wütend riss die Schriftstellerin das eben erst eingelegte Blatt Papier aus der Maschine, zerknüllte es und warf es in Richtung Papierkorb. Zwar fand der Wurf mit beachtlicher Treffsicherheit sein Ziel, aber der Behälter war bereits so hoffnungslos überfüllt, dass das Papierknäuel darin nicht verschwand, sondern herabkullerte und sich zu den zahlreichen Leidensgefährten gesellte, die den Boden des kleinen Arbeitsraumes bedeckten. Die Kaffeetasse, die neben der Schreibmaschine stand, war leer, nur ein hellbrauner Kreis hob sich vom Weiß des Porzellans ab und starrte die Schriftstellerin mitleidlos an. In alter Gewohnheit tastete die Frau, ohne hinzuschauen, nach dem Papierstapel daneben, hielt aber in ihrer Bewegung inne und ließ ein bereits aufgenommenes Blatt wieder sinken. Sie seufzte, warf ihre Lesebrille auf die Tischplatte und massierte mit Daumen und Zeigefinger ihre Nasenwurzel. Einige Augenblicke verharrte sie regungslos. Dann ordnete sie mit fahrigen Bewegungen ihr schulterlanges braunes Haar, das von mehreren grauen Strähnen durchzogen war und drückte auf den Kipphebel der Schreibmaschine. Das leise Summen aus dem Bauch des Apparates verstummte augenblicklich. Kein zufälliger Besucher wäre auf dieses unschuldige Geräusch aufmerksam geworden, doch der Schriftstellerin, die sich, um Erinnerungen, Bildern und Formulierungen ringend, auf ihrem Bürostuhl hin und her drehte, war es immer unerträglicher geworden. Das Summen schien sich immer häufiger in das heftige Rauschen eines Flusses zu verwandeln, der unbarmherzig alle Gedanken und Einfälle mit sich fortriss. Die Schriftstellerin erhob sich, ging einige Schritte auf die Terrassentüre zu und trat ins Freie. Die frische Luft tat ihr gut. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Worauf hatte sie sich da eingelassen? Sollte sie ihr ehrgeiziges Projekt jetzt schon begraben? Vielleicht war sie noch zu jung, um eine Autobiographie zu schreiben? Taten das andere nicht erst mit sechzig oder siebzig? Andererseits – hatte sie nicht schon genug erlebt? Sie durfte sich jetzt nicht gehenlassen. Ihre Nerven waren überreizt, gewiss. Sie würde sich schon durchbeißen, es waren doch schon fast zweihundert Seiten fertig. Sicherlich war es nur eine vorübergehende Krise, die momentan ihre Kreativität lähmte und den Haufen zerknüllter Manuskriptblätter täglich anwachsen liess. Ein Spaziergang in die Stadt, dann würde sie mit neuer Energie an die Arbeit gehen. Sorgfältig sperrte sie die Haustüre ab und machte sich auf den Weg.

Von Ferne empfing sie schon das Geschrei einer größeren Menschenmenge. Auf einem der Plätze der Stadt fand an diesem Nachmittag offensichtlich ein Trödelmarkt statt. Die Schriftstellerin trat näher heran und schlenderte an den Tischen vorüber, auf denen altes Küchengeschirr, Kleidung, Comics und Spielzeug bunt durcheinandergewürfelt zum Verkauf angeboten wurden. Die Händler harrten auf Kundschaft. Die Schriftstellerin wollte eben weitergehen, als hinter ihrem Rücken ein dünnes Stimmchen fragte: „Was kostet diese Puppe da?“ Sie drehte sich um. Ihr Blick fiel auf ein kleines Mädchen, das auf eine schmuddelige Harlekinsfigur deutete. Sie musste sich auf Zehenspitzen stellen, um auf das Gewünschte aufmerksam zu machen. „Sieben Euro,“ antwortete der junge Mann hinter dem Tisch und nippte an einem Pappbecher. „Oh, schade, ich hab‘ aber nur fünf Euro.“ Die Stimme des kleinen Mädchens klang bedrückt. „Na, meinetwegen,“ entgegnete ihr Gegenüber und zuckte gleichgültig mit den Schultern, „dann gib mir deine fünf Euro.“ Das Mädchen nahm die Puppe in Empfang, drückte dem Händler den verknitterten Geldschein in die Hand und hüpfte laut singend davon. Die Schriftstellerin hatte das Geschehen zunächst amüsiert, dann ein wenig nachdenklich verfolgt. Irgendwie kam ihr dieses belanglose Vorkommnis vertraut vor, als habe sie ähnliches erst vor kurzem miterlebt. Das Kind, der Händler, eine schmuddelige Puppe… Sie wusste weder wann noch wo. Irritiert fasste sie sich an den Kopf. Ein Dejavu-Erlebnis, zweifelsohne! Eine Gedächtnistäuschung. Der Eindruck, als habe man das eben Gesehene in allen Details schon einmal erlebt. Verrückt, aber erklärbar. Die Schriftstellerin versuchte sich die Einzelheiten dieses Naturphänomens ins Gedächtnis zu rufen. Eine synaptische Fehlschaltung im Gehirn, so vergegenwärtigte sie sich, eine irrtümliche Verknüpfung zweier Gedächtnisfelder, die an und für sich nichts miteinander zu tun haben. Irgendwie beeindruckend. Was es alles gibt! Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie ein solches Erlebnis so hautnah verspürte. „Ein gutes Zeichen!“, dachte sie bei sich und versuchte zu lächeln. „He, zur Seite da vorne, können Sie nicht aufpassen?“ Ein derber Ruf riss die Schriftstellerin aus ihren Gedanken. Erschrocken blickte sie um sich. Hinter ihr hörte sie Hufgetrappel und bremsende Räder. In ihrer Geistesabwesenheit war sie mitten auf der Straße dahingeschlendert und hatte einem Kartoffelfuhrwerk, das von einem mageren Pferd gezogen wurde, den Weg versperrt. Das Auffälligste an dem Mann auf dem Kutschbock war sein rotes, unrasiertes Gesicht. Er wog mindestens zwei Zentner und schnaufte vor Ärger laut hörbar. Ungeduldig schnalzte er mit den Zügeln und steuerte mit seinem Gespann grußlos an der Schriftstellerin vorbei, die verschreckt zur Seite trat. Im Vorüberfahren entzifferte sie auf dem Gefährt die Aufschrift „Max Mittermüller – Kartoffel – Gemüse“. Max Mittermüller? Kartoffelhändler? Die Schriftstellerin stutzte und musste trotz ihres Ärgers lachen. War denn das die Möglichkeit? So ein Zufall! Erst in einem ihrer letzten Romane hatte sie einen Kartoffelhändler auftreten lassen. Und wie hatte sie ihn genannt? Max Mittermüller! Also, Sachen gibt es! Die Schriftstellerin versuchte sich an die Figur zu erinnern. Ein roher Kerl, der seine Kinder schlug und schließlich dem Suff verfiel. Und jetzt fuhr dieser Mensch leibhaftig an ihr vorüber. Zugegeben, der Name war nicht außergewöhnlich originell, aber dass es wirklich einen Kartoffelhändler dieses Namens gab, war schon ulkig. Vielleicht hatte sie ihn doch schon irgendwo gesehen und ihn unbewusst in ihre Geschichte eingebaut. Schriftstellerei ist doch bisweilen eine recht merkwürdige Beschäftigung, stellte sie fest und setzte etwas betreten ihren Rundgang fort.

„Entschuldigung, ist dieser Platz noch frei?“ Die Schriftstellerin schrak aus ihren Grübeleien hoch und erblickte einen jungen Mann, der freundlich lächelnd auf den Stuhl neben ihr deutete. Nachdem sie noch fast eine Stunde durch die Straßen der Stadt gelaufen war, war sie in einem der Cafe’s am Rande des Parks hängengeblieben. „Wie? Aber bitte“, stotterte sie überrascht. „Danke, sehr freundlich!“ Der junge Mann knüpfte seinen leichten Trench-Coat auf, zog ihn aus und hängte ihn mit einer lässigen Bewegung auf den Kleiderständer in der Ecke. Dann kam er wieder auf ihren Tisch zu und setzte sich. Er trug einen eleganten, dunklen Anzug mit einer auffälligen roten Krawatte, die von einer Nadel festgehalten wurde.
Die Schriftstellerin sah zuerst die Krawatte. Dann hob sie langsam die Augen und blickte dem Mann vorsichtig ins Gesicht. Sie begann zu zittern. Irgendetwas in ihr krampfte sich zusammen. „Fräulein, einen Tee bitte!“ rief der junge Mann der vorbeieilenden Bedienung zu, „Mit Milch!“ Mit Milch! Natürlich mit Milch. Lord Matthew Simpson hatte seinen Tee immer mit Milch getrunken. Und er trug mit Vorliebe dunkle, maßgeschneiderte Anzüge mit knallroten Krawatten. Und dieses markante Gesicht! Wie man sich eben einen jungen englischen Aristokraten landläufig vorstellte. Es konnte keinen Zweifel geben. Vielleicht war vorhin der grobschlächtige Kartoffelhändler noch ein Produkt des Zufalls, ein absurder Scherz der Wahrscheinlichkeiten gewesen, aber jetzt war jeder Zweifel ausgeschlossen: Dieser junge Mann, der da ahnungslos vor ihr saß und auf seinen Tee wartete, war niemand anders als Lord Matthew Simpson, eine der beiden Hauptfiguren ihres letzten – zugegeben etwas missglückten – Liebesromans! Die Schriftstellerin vergrub ihr Gesicht in beiden Händen. War sie verrückt geworden? Spielten ihr ihre überreizten Nerven diesen üblen Streich? Mit tonloser Stimme bestellte sie einen Cognac. Nein, schon der feiste Kartoffelhändler war ein Produkt ihrer schöpferischen Phantasie gewesen. Jedes Detail passte, sie hatte es nur nicht wahrhaben wollen. Und – natürlich! Jetzt kam ihr auch das kleine Mädchen mit der Harlekinspuppe auf dem Trödelmarkt in den Sinn. Ein Dejavu-Erlebnis? Die Schriftstellerin lachte bitter auf. Nein, auch dieses kleine Mädchen hatte sie einmal erfunden, vor vielen Jahren schon. Wie hiess sie doch gleich? Adele…Amalie…Agathe…? Es war nur eine kleine Nebenfigur in einem ihrer ersten Bücher gewesen, Tochter des üblen Immobilienmaklers Schnitzler. Die Schriftstellerin saß apathisch vor ihrem Espresso. Der junge Mann hatte sich hinter seine Zeitung zurückgezogen, sodass nur manchmal seine schlanke Hand sichtbar wurde, wenn er die Asche seiner Zigarette abstreifte. Das angebrochene Päckchen lag halbverdeckt unter der Speisekarte. Mit geweiteten Augen versuchte die Schriftstellerin einen Blick auf die Zigarettenmarke zu werfen. Dunhill! entzifferte sie stockend. Natürlich Dunhill! Wie konnte es anders sein? Der junge Mann blätterte geräuschvoll in der Zeitung. Ringsherum bewegte sich der alltägliche Betrieb eines Straßencafes wie an jedem anderen Tag. Aber es war nicht so wie an jedem anderen Tag! Schweißperlen klebten an den Schläfen der Schriftstellerin, während sie durch das große, mit altmodischen Goldbuchstaben dekorierte Auslagenfenster ins Freie starrte. In diesem Moment fiel ihr Blick auf eine Gestalt, die über den Platz schlenderte, ohne Hast die Straße überquerte, auf das Cafe zuging, kurz davor rechts abbog und sich wieder langsam entfernte. Die Gestalt erwies sich als Frau mittleren Alters, die ein indigofarbenes Kostüm trug und ihre braunen Haare zu einem Knoten zusammengesteckt hatte. Die Schriftstellerin starrte der Fremden regungslos hinterher. Ihr Gesicht war aschfahl geworden. Ein Löffel fiel zu Boden. Dann fasste sie sich, warf einige Münzen auf den Tisch, sprang auf und rannte, ohne auf den jungen Mann zu achten, der verdutzt seine Zeitung sinken ließ, aus dem Cafe. Im Freien stockte sie, runzelte die Stirn und hielt verzweifelt Ausschau nach dem indigofarbenen Kostüm, dessen Trägerin sie für einen Moment aus den Augen verloren glaubte. Doch sobald sich ihre Augen an die Sonne gewöhnt hatten, erkannte sie auch schon etwa hundert Meter entfernt jene Figur, die ihr für einen Augenblick den Atem nahm. Sie musste Gewissheit haben, keinen Tag würde sie länger leben können, wenn sie ihren bösen Verdacht nicht sofort aus dem Weg räumte! Sie rannte wieder los, bis sie auf etwa dreißig Meter herangekommen war. Ihr Puls klopfte heftig. Mit einer Hand drückte sie gegen die Lende, um das aufkommende Seitenstechen zu beruhigen. Dennoch ließ sie keinen Blick von jener Frau, die da, ohne eine besondere Eile an den Tag zu legen, die Einkaufsstraße entlangging und Schaufenster betrachtete. Einen Moment hielt die Schriftstellerin an, um zu verschnaufen. Alles an dieser Gestalt kam ihr bekannt vor, obwohl sie immer nur die Rückenpartie zu sehen bekam. Der Gang, das Wiegen des Oberkörpers, die gelegentliche Bewegung der rechten Hand, sich die Haare aus der Stirn zu streichen. Auch die Kleidung, die eleganten Schuhe! Sie musste das Gesicht sehen, erst dann konnte sie sicher sein! Sie musste alles auf eine Karte setzen! Sie beschleunigte ihre Schritte, musste einigen lärmenden Schulkindern aus dem Weg gehen, ein Auto aus einer Einfahrt biegen lassen, um schließlich wieder ins Laufen zu kommen. Der Abstand zwischen den zwei Frauen verringerte sich zunehmend. Schon war das Geklingel der dicken, goldenen Armreifen zu hören, die die Frau trug. Als wäre sie der heimlichen Verfolgerin gewahr geworden, schien aber auch die Frau im Kostüm schneller zu gehen. Die Schriftstellerin hinter ihr begann zu rennen. Nur noch wenige Meter, und sie würden sich gegenüberstehen, Gesicht zu Gesicht. Die Schriftstellerin keuchte, Schweiß rann ihr, mit Wimperntusche vermischt, in die Augen und begann höllisch zu brennen. Als sie sich mit einer Hand ins Gesicht fassen wollte, geschah es. Sie nahm den Mann, der vor ihr aus einem Torbogen sein Rad schob, nur noch für den Bruchteil einer Sekunde wahr, und schon prallte sie mit voller Wucht gegen den massigen Körper. Ihr wurde schwarz vor Augen. Als erstes hörte sie wieder das keifende Schimpfen des Mannes, der mitten auf dem Gehweg saß und auf sein zerbeultes Fahrrad blickte. Sie selbst fühlte an ihrer Schulter einen heftigen Schmerz, umklammerte die zerschundene Stelle und rappelte sich auf. Ohne auf das Gezeter des Mannes zu achten, suchte sie angestrengt den Straßenzug ab. Von der Frau im indigofarbenen Kostüm war weit und breit nichts mehr zu sehen! Die Schriftstellerin humpelte einige Meter weiter und musste sich dann an einer Parkuhr stützen. Es half nichts. Die Gestalt blieb verschwunden.

Es war bereits Nacht geworden, als sich die Schriftstellerin hinkend ihrem Haus näherte. Stundenlang war sie ruhelos durch die Straßen geeilt. Die unglaublichen Begebenheiten dieses Tages hatten sie in vollständige Verwirrung, ja in Panik gestürzt. Ihr Herz hämmerte rastlos, als sie so vor sich hin stolperte. Plötzlich stutzte sie. Brannte da nicht Licht in einem der Zimmer? Ja, es gab keinen Zweifel, es war ihr Arbeitszimmer, aus welchem ein schwacher Lichtschein ins Freie drang. Einbrecher? Diebe? Ach, Unsinn, vermutlich hatte sie versehentlich eine Lampe brennen lassen, weiter nichts. Einbrecher wären kaum so dumm, Licht zu machen. Das Beste wäre, einen Blick durch das Fenster zu werfen. Vorsichtig ging sie die letzten Stufen hinauf, drückte sich dann an die Hauswand und schlich daran entlang. Nach wenigen Metern war sie am Fenster des Arbeitszimmers angelangt. Zentimeter für Zentimeter schob sie ihren Kopf näher an die Scheibe. Zunächst konnte sie gar nichts erkennen, doch dann – ihre Augen wanderten gerade über ihren Arbeitsplatz – stieß sie einen leisen Schrei aus! Auf dem Sessel vor ihrem Schreibtisch saß niemand anderes als – die Dame im indigofarbenen Kostüm! Und ein Blick in das Gesicht der Frau genügte, um zu erkennen: Hier saß die Doppelgängerin der Schriftstellerin selber! Still und konzentriert arbeitete sie an einem Text, nippte bisweilen am Rand einer Kaffeetasse und ließ dann wieder mit einer gewissen Leichtigkeit ihre Finger über die Tasten der Maschine gleiten. Die Schriftstellerin draußen vor dem Fenster starrte mit offenem Mund auf jede ihrer Bewegungen. Die Gestalt, die da in aller Ruhe vor der Schreibmaschine saß war ohne Zweifel ihr Ebenbild – und sie war es doch wieder nicht. Man tat sich schwer, die Unterschiede zu erkennen. Sie schien etwas jünger als sie. Ihr Äußeres war irgendwie eleganter, ihre Züge energischer und selbstbewusster. An der Art und Weise, wie sie ihre Gedanken zu Papier brachte, merkte man, dass sie wusste, worauf sie hinauswollte. Da gab es kein unendliches Grübeln, kein nervöses Auf-und-ab-Gehen, kein wütendes Hämmern auf die Tasten, kein hysterisches Blätterzerknüllen. Nein, ruhig und gelassen füllte sie Zeile um Zeile, überflog die Absätze und lehnte sich bisweilen mit einem zufriedenen Lächeln in den Bürostuhl zurück. Nach und nach dämmerte es der Schriftstellerin: Die Dame im indigofarbenen Kostüm war nicht ihr leibhaftiges Double mit all ihren Fehlern und Schwächen, sondern die Verkörperung jener Person, die sie in ihrer Autobiographie geschildert hatte. Sie gebärdete sich haargenau so, wie sie sich selber gerne gesehen und allen anderen präsentiert hatte. Ein Idealtypus ihrer selbst. Ebenso wie Lord Matthew Simpson und der Kohlenhändler, ebenso wie das Mädchen mit der Puppe war sie ein Geschöpf ihrer Phantasie, ihr geistiges Kind. Vielleicht führte sie selbst schon seit längerer Zeit die Existenz eines Phantoms. Vielleicht wurde sie von ihrer Umwelt gar nicht mehr wahrgenommen, dafür aber sie, die andere, die vor ihren Augen bereits in ihrem Sessel saß.

Während ihr diese Gedanken durch den Kopf schossen, nahm die Schriftstellerin eine seltsame Veränderung in sich wahr. Statt dass sich die Verzweiflung weiter gesteigert hätte, fühlte sie eine Woge kühler Gelassenheit in sich aufsteigen. Wäre das wirklich alles so furchtbar, wie sie in ihrer ersten Panik angenommen hatte? Sie hatte sich in ihrer Autobiographie bei aller Zurückhaltung als Autorin geschildert, die auf dem Sprung war, sich literarischen Ruhm zu erwerben. Eine solche Frau saß jetzt vor ihr. Kühn, spritzig, niveauvoll. Eine Schriftstellerin, die ihren Namen zweifellos weithin berühmt machen würde. Eine Frau, die jetzt ihren Platz im Leben eingenommen hatte, ja, ihn viel besser ausfüllte, als sie selbst es je vermocht hatte. Sie, die andere, musste bleiben, wenn sich die Sehnsüchte ihres Lebens noch erfüllen, die ehrgeizigen Pläne verwirklichen sollten. Sie würde in die Literaturgeschichte eingehen. Eine einmalige Chance, die sich da so verlockend bot. In diesem Moment wusste die Schriftstellerin mit eisiger Klarheit, was sie zu tun hatte. Nur für einen Moment noch blickte sie versonnen durch das Fenster ihres Hauses, ließ den Blick über Bücher, Bilder und Möbel gleiten, wandte sich dann um, machte, um kein unnötiges Geräusch zu verursachen, einige vorsichtige Schritte und verschwand dann mit dem gelassenen Lächeln einer, die das Leben überflüssig, aber berühmt gemacht hatte, langsam in der Dunkelheit.