Eine historische Erzählung von Norbert Göttler
1. Der Abschied
Der Abschied vollzieht sich, wie in bäuerlichen Familien seit Jahrhunderten üblich, steif und unbeholfen. Obwohl Martin in aller Herrgottsfrüh aufgestanden ist, findet er im Bauernhaus niemanden mehr an. Alle sind sie bei der Arbeit auf dem Hof. Er trinkt hastig einige Schluck Milch, stellt den Rucksack, den er gestern schon gepackt hat, vor die Haustüre und macht sich auf die Suche. Es ist Sommer, die Heuernte steht an. Im Stall stampfen die Kühe und wollen gefüttert werden. Seit Vaters Erkrankung führt der ältere Bruder das Regiment. Ein barsches Regiment. Zu viel Arbeit und zu wenig Arbeitskräfte in diesem Kriegsjahr 1944. Zusammen mit zwei unverheirateten Schwestern und einem polnischen Zwangsarbeiter muss er alle Arbeiten verrichten, die an einem so großen Hof anfallen. Die Mutter, eine hochgewachsene und schweigsame Frau, ist mit dem Haushalt und der Pflege ihres Mannes ausgelastet.
Martin ist siebzehn Jahre alt. Ein Nachzügler nach sieben Geschwistern, verträumt, schmächtig, nur einen Meter und fünfundfünfzig Zentimeter groß und 45 Kilogramm leicht. Denkbar ungeeignet für die schwere Bauernarbeit. Dennoch hat sich niemand Gedanken gemacht, was aus ihm werden sollte. „Ein Pfarrer wird´s wohl nicht!“, hatte einmal der Kaplan zu Martins Vater gesagt. „So kleine Messgewänder gibt’s gar nicht. Aber vielleicht ein Klosterbruder? Vielleicht ein Kapuziner? Die nehmen´s nicht so genau mit der Körpergröße und der Gelehrsamkeit.“ Aber auch daraus war nichts geworden. Seit sechs Jahren, seit er aus der Volksschule entlassen wurde, arbeitet Martin nun schon als billige Hilfskraft auf dem Hof. Viel zu anstrengende Tätigkeiten im Stall und auf dem Feld, besonders zu Erntezeiten. Er bekommt viele Schimpfworte zu hören. Nur mit den zwei Pferden hat er sich angefreundet, und wenn es ein Fohlen gibt, einen „Heissen“, wie man sagt, ist das der Höhepunkt des Jahres. Da verbringt er Tage und Nächte bei der trächtigen Stute. „Heissnpassn“ nennt man das.
Als Martin jetzt am Pferdestall vorübergeht, wird seine Kehle eng und er schluchzt auf. Er muss einen Moment stehen bleiben und sich fassen. Dann hört er das Scheppern von Blechkübeln. Es sind zwei seiner Schwestern beim Füttern der Kälber. Er geht zu ihnen hin.
„Heut ist´s soweit. Ich muss los“, sagt er, immer noch etwas heiser.
Die beiden schauen ihn wortlos an. „Ja, du musst los“, murmelt die eine nach einer Weile. „Vielleicht kommst ja bald wieder“, setzt die andere hinzu.
„Ja, vielleicht“, sagt Martin und wendet sich ab, um seine Tränen zu verbergen. Benimmt dich nicht wie ein kleiner Junge, weist er sich selbst zurecht. Er macht ein paar Schritte, dreht sich nochmals um und hebt die Hand zum Winken. Die beiden stehen immer noch da, jetzt deuten auch sie einen Gruß an. Aus einer Luke des Speichers, wo das Stroh gelagert wird, taucht der verschwitzte Kopf des älteren Bruders auf.
„So, jetzt will der auch noch fort“, schimpft er. „Und das mitten beim Heumachen!“
„Josef!“, weist ihn eine der Schwestern zurecht. „Er geht doch nicht freiwillig. Sei froh, dass du nicht fort musst!“
„Wenn´s wahr ist. Wie soll man da noch fertigwerden mit der Arbeit?“
„Sei still jetzt! Der Polak hört doch zu!“
„Ach was, der versteht doch nichts!“, knurrt der Jungbauer, verzieht sich aber wortlos auf den Speicherboden.
Tatsächlich ist gerade der polnische Zwangsarbeiter mit zwei vollen Melkkübeln erschienen. Er spricht in der Tat nur wenig, versteht aber viel. Zum Beispiel, dass der kleine Martin jetzt doch – was niemand mehr geglaubt hatte – in den Krieg ziehen muss. Er ist doch noch fast ein Kind. Aber offenbar ist es jetzt soweit. Der junge Pole setzt seine beiden Kübel ab, geht auf Martin zu und umarmt ihn kurz. Martin, der eine solche Geste nicht kennt, weicht überrascht zurück. „Ist ja gut“, murmelt er, etwas peinlich berührt, und schaute zu den beiden Schwestern, ob sie sich nicht lustig über ihn machen. Sie kichern aber nicht, sondern blicken betreten zu Boden. Martin nickt nochmals und verschwindet.
In guten Zeiten haben sie ihre Freude zusammen gehabt. „Der Kleine“, so haben sie ihn genannt, war musikalisch, das hat man schon in Schule festgestellt. An ein eigenes Instrument war nicht zu denken, aber seit ein anderer Bruder, der Nächstälteste, im Krieg war, war dessen Akkordeon verwaist. Martin nutzte viele freie Stunden, um allein darauf zu üben. Bald schon konnte er einfache Stücke, und die Schwestern ließen sich nicht lange bitten. Nach getaner Arbeit verwandelte sich der große, dunkle Hausflur des Bauernhauses in einen Tanzboden. Seit zwei Jahren war diese Welt versunken. Wenn Martin Akkordeon – „Quetschn“, wie er das Instrument nannte – spielen wollte, musste er sich in den hintersten Garten verziehen, wo ihn niemand hörte. Höchstens Michael, der Nachbarsbub, der sich dann still daneben setzte und an einem Stück Holz schnitzte. Er war vier Jahre jünger als Martin, aber jetzt schon etwa gleich groß. An Tanzen und gemeinsames Singen wie früher war seit zwei Jahren nicht zu denken. Vater hatte es verboten.
Zwei weitere Schwestern sind bereits verheiratet und weggezogen. Ein Bruder ist im Krieg. Man hört nur wenig von ihm. Der Bruder, der ihn eben erst so unwirsch verabschiedet hat, wird den Hof erben, das weiß Martin. Der eigentliche Hoferbe ist tot, aber darüber wird nicht gesprochen. Martins Mutter war noch nie eine Frau der offenen Gefühle gewesen. Zuneigung kann sie nur durch einige wenige symbolische Akte zeigen. Zum Beispiel, wenn sie Martin, ihrem Jüngsten, eine besonders saftige Birne in die Tasche steckte, als er noch in die Schule ging. Oder wenn sie ihm einen Verband mit essigsaurer Tonerde um den Knöchel legte, wenn die Arbeit wieder mal seine Gelenke überfordert hatten. Seit den Ereignissen vor zwei Jahren und der Erkrankung ihres Mannes ist Mutter in eine innere Starre verfallen. Eine Gefühlskälte, die jene noch übersteigt, die die bäuerliche Kultur ohnehin seit Jahrhunderten durchzieht. Und so ist es auch jetzt nur ein kleines Paket mit Lebensmitteln – ein Stück Geselchtes, ein kleines Brot, etwas Käse – das als Symbol des Abschieds herzuhalten hat. Umarmen kann sie ihren Sohn nicht, stattdessen zeichnet sie ihm ein Kreuzzeichen auf die Stirn. So wie sie es auch bei seinen beiden älteren Brüdern getan hat, als diese den dunklen Flez des elterlichen Hauses verlassen hatten. Der eine vor sechs, der andere vor drei Jahren.
„Wo ist Vater?“, fragt Martin zögerlich.
„Wo soll er schon sein?“, antwortet seine Mutter. „Hinterm Haus. Wie immer.“
Martin geht in den kleinen Apfelgarten. Sein Vater sitzt dort in einem geflochtenen Korbstuhl, trotz des Sommertags in eine Decke gehüllt. Mit leeren, gelben Augen blickt er vor sich hin. Von dem ehedem stolzen Bauern und Bürgermeister ist nicht mehr viel übrig.
„Ich muss los, Vater“, murmelt Martin. Es dauert, ehe der 61jährige ihn wahrnahm. Dann nickt er.
„Ja, ich weiß“, flüstert er. “Pass auf dich auf.“
Mehr kann er nicht mehr sagen, denn schon laufen Tränen über seine grauen Bartstoppeln.
So von den Seinen verabschiedet, stapft Martin los. Aus den wenigen Höfen links und rechts der Dorfstraße klingt das Muhen der Kühe und das Klingen der Dengelhämmer. Martin hätte eine Abkürzung nehmen können, aber er hat genügend Zeit und will noch einmal durch das Dorf wandern. Dann geht es hinaus, den Feldern entlang. Als er an der alten Marienkapelle vorübergeht, löst sich aus deren Schatten eine Gestalt. Es ist sein kleiner Freund Michael vom Nachbarhof.
„Miki, was machst du denn hier?“, redet Martin ihn an. „Bist du nicht in der Schule?“
Der Junge zuckt nur mit den Schultern. „Ich wollte dich das letzte Stück begleiten. Wir sehen uns ja jetzt eine Zeitlang nicht. Aber wie siehst du denn aus?“
In der Tat macht Martin mit seinen Bundhosen und seiner viel zu großen Regenjacke einen etwas eigenartigen Eindruck. Für gewöhnlich trägt er das ganze Jahr über abgenutzte Arbeitskleidung seiner älteren Brüder, Stücke, die seiner geringen Körpergröße entsprechend notdürftig von der „Naderin“, einer ambulanten Näherin, angepasst worden waren. Nur an den Sonntagen zieht er seinen Kommunionanzug an, den er sorgfältig pflegt. Da er seit Jahren kaum mehr gewachsen ist, passt dieser immer noch. Aber mit einem Kommunionanzug in den Krieg zu ziehen, das kommt ihm doch ein wenig seltsam vor. In dem dürren Schreiben, das er von Amts wegen erhalten hatte, stand nichts von einer Kleiderordnung. Nur, dass er zu gegebener Zeit eine Uniform erhalten würde. Also hatte Martin in der Truhe mit abgetragenem Gewand gewühlt und sich mit jenem Durcheinander ausgestattet, das Michael jetzt so komisch fand. Schweigsam gehen die beiden nebeneinander her.
„Wirst du schießen müssen? Mein Vater sagt, alle Soldaten müssen schießen.“
„Wird er schon recht haben. Hab mir darüber keine Gedanken gemacht. Es kommt, wie´s kommt“.
„Hast Angst?“
Martin zuckt mit den Schultern.
„Ob ich auch mal einrücken muss?“, plappert Michael weiter.
„Kann schon sein, aber bis dahin ist der Krieg zu Ende.“
„Den wir natürlich gewinnen?“
„Natürlich. Aber jetzt geh in die Schule zurück. Sonst kriegst Ärger.“
„Den krieg ich ohnehin.“
Michael greift sich in die Hosentasche, holt ein kleines, hölzernes Figürchen hervor, das er geschnitzt hatte.
„Da, das wird dir Glück bringen!“
Martin nickt, gibt seinem Freund einen Stoß in die Seite und wendet sich dem kleinen Provinzbahnhof zu, wo die Lokomotive mit den drei Waggons schon seit einigen Minuten wartet und mit ihrem Dampf eine versinkende Welt einzunebeln scheint.
Von ein paar Fahnenweihen in der näheren Umgebung abgesehen, hat Martin seine engere Heimat nur zweimal verlassen. Einmal, als fast alle Dorfleute eine Wallfahrt nach Andechs unternommen hatten, und ein andermal, als anlässlich der Landwirtschaftsausstellung an der Münchner Theresienwiese ein Pferd seines Vaters prämiert werden sollte. Von dieser Begebenheit her wusste er immerhin, wie der Münchner Hauptbahnhof aussah und wie man zu ihm gelangte. Das kommt ihm jetzt zugute. Trotzdem klopft sein Herz, als sich der Zug mühsam in Bewegung setzt und sein Dorf langsam aber sicher hinter den Hügeln verschwindet. Michael, der noch lange winkt, ist nur mehr als Punkt am Bahnsteig zu erkennen.
2. Eine Generation vorher
Ziemlich genau dreißig Jahre vorher waren schon mal junge Männer aus dem Dorf im Dampf einer Lokomotive gestanden. Obwohl der Kriegsfanatismus der großen Städte nie das Land erreicht hatte, war das noch ein ganz anderer Abschied gewesen. Am Abend zuvor hatte man ausgiebig in der Dorfwirtschaft gefeiert und tags darauf hatte wohl die Hälfte der rund dreihundert Einwohner die jungen Burschen an den Bahnhof begleitet. Man sang die „Wacht am Rhein“ und „Es braust ein Ruf wie Donnerhall“. Es gab Vivat-Rufe, Umarmungen und eine unbeholfene Ansprache des Bürgermeisters. Eine Blaskapelle tat ihr Übriges und einige uralte Veteranen des 70er Krieges wischten sich Tränen der Rührung aus den Augenwinkeln.
Die Ernüchterung ließ nicht lang auf sich warten. Je länger der Krieg sich hinzog, umso missmutiger wurde die ländliche Bevölkerung. Bereits viermal musste der Bürgermeister einen der Bauern aufsuchen und ihm ein graues, amtliches Couvert aushändigen. Dort stand in dürren Worten die Todesnachricht. Wieder einer der Buben gefallen. Heldenhaft und aufrecht natürlich. Kein Wort von erbarmungslosen Schützengräben-Kämpfen und dem Ersticken im Gaskrieg.
Die Alten beugten sich abends in der Dorfwirtschaft über die einzige Zeitung des Dorfes und versuchten, aus den winzigen Landkarten etwas zu entziffern. Als die Siegesmeldungen immer spärlicher wurden, mussten auch Männer des Dorfes an die Front, die bisher als unabkömmlich gegolten hatten. Einer davon war Martins Vater. Er hatte bereits vier kleine Kinder zuhause, zwei Mädchen und zwei Buben. Immerhin kam er ein Jahr später zurück. Lahm und schweigsam. So gut es ging nahm er die Bauernarbeit wieder auf, zeugte vier weitere Kinder und wurde Bürgermeister des Dorfes.
3. Früheste Erinnerungen
Dass sich plötzlich viele fremde Menschen auf dem Hof und im Bauernhaus einfanden, gehörte zu den frühesten Kindheitserinnerungen Martins. Wer waren diese Leute? Die Männer und Frauen waren so anders als die Knechte und Mägde, die er kannte. Sie waren abgehärmter und schlechter gekleidet. Außerdem rochen sie schlecht. Sie lachten nicht, im Gegenteil. Ihre Stimmen waren zwar leise, aber hart und aggressiv. Die Leute hatten kein Auge für den kleinen Martin und ängstigten ihn. Wenn Mutter oder eine der Schwestern in der Nähe waren, flüchtete er hinter ihre Röcke und Schürzen. Aus der Stube, wo er nicht hineindurfte, drang dann die Stimme des Vaters, die der fremden Männer, ab und zu auch das Weinen von Frauen.
Was Martin in seinem Alter nicht wissen konnte: Sein Vater war 1929 Bürgermeister des Dorfes geworden. Jetzt war er zuständig für alle sozialen Probleme ins einem Gemeindebereich. Die größte aller Herausforderungen hatte nationale Ausmaße. Im Mai 1915 war auf den Fluren des Dorfes Rüstungsindustrie, eine „Königliche Pulver- und Munitionsfabrik“, errichtet worden. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg musste sie 1918 ihre Tore schließen. Über achttausend Arbeiterinnen und Arbeiter, die aus ganz Deutschland hierhergezogen waren, waren mit einem Schlag arbeits- und wohnsitzlos. Das Bürgermeisteramt von Martins Vater war nach dem Gesetz eine der Anlaufstellen für soziale Hilfen. Hilfen, die der Bürgermeister aber nicht bieten konnte. Eine Situation, die das kleine Dorf noch jetzt, über zehn Jahre später, hoffnungslos überforderte. Die Gemeindekasse war seit Jahren leer. Die Bittsteller kamen trotzdem.
Eine spätere Erinnerung Martins betraf seinen Schulbesuch. Seit ein paar Jahren gab es im Dorf ein eigenes Schulhaus, zuvor mussten die Kinder sommers wie winters eine Stunde Fußmarsch in Kauf nehmen, um in die nächste Stadt zu marschieren. Das blieb Martin erspart. Er war kein schlechter, aber ein verträumter Volksschüler gewesen. Von seiner tintengetränkten Schulbank aus blickte Martin oft gedankenverloren aus dem Fenster. Er konnte da zum Beispiel beobachten, wie der alte Mesner den Schnee von den Friedhofswegen schaufelte, die Teppiche klopfte oder den mottenzerfressenen „Himmel“ für die Fronleichnamsprozession lüftete. Wenn dieser energische Kirchendiener – ein Feldwebel aus dem Ersten Weltkrieg, vor dem nicht einmal die Geistlichkeit, geschweige denn die Schulkinder aufzumucken wagten – gar daranging, ein frisches Grab auszuheben, dann waren schon mehrere Ermahnungen seitens des Lehrers nötig, ihre Schützlinge auf den harten Boden der deutschen Grammatik zurückzuholen.
Das Schuljahr war mit dem immer wiederkehrenden Turnus des Kirchenjahres eng verknüpft. Mit Geschichten und Bildern wurden die Kinder auf die großen Kirchenfeste vorbereitet, wurden Lieder und Stücke einstudiert und kurze Theaterszenen geprobt. Weihnachten und Ostern, Erstkommunion und Fronleichnam, aber auch Fasching und Sonnwend waren Feste, an denen die ganze Schule Anteil nahm und öffentlich in Erscheinung trat. Diese katholische Sozialisation verdichtete sich speziell bei den paar Buben, die als Ministranten das Privileg der besonderen Klerusnähe genießen durften. Martin gehörte auch dazu. Welche Augenblicke, wenn es mitten in einer träge sich hinschleppenden Nachmittagsstunde an der Klassentür klopfte, der Pfarrer eintrat und die Lehrerin höflich, aber keinen Widerspruch erwartend, bat, den paar Ministranten schulfrei zu geben, da er einer Hochzeit, eines Begräbnisses oder einer Krankensalbung wegen unserer dringenden Assistenz bedurfte. Und gar, als man dann nach einer Stunde weihrauchduftend wieder zurückkam und in den Hosentaschen die Fünf- und Zehnpfennigstücke, die einem als Lohn ausbezahlt wurden, klimpern lassen konnte! Dutzende von neiderfüllten Augenpaaren begleiteten einen, bis man auf seinem Stuhl wieder Platz genommen hatte und sich für den Rest des Tages wie nach einem geheimnisvollen Initiationsritus der Erwachsenenwelt ein wenig näher fühlen durfte.
4. Erste Tage in Augsburg
Obwohl nur mit Platzpatronen bestückt, wirft ihn schon die erste Salve mit dem Karabiner 98K schmerzhaft zu Boden, was alle Anwesenden auf dem Schießstand zu Lachorgien reizt. Auch der Umgang mit der Stielhandgranate 24 endet in einem Desaster, sodass ihn der diensthabende Feldwebel zu einem einwöchigen Latrinendienst verdonnert. Nur beim Umgang mit dem Gasspürgerät und der Gasmaske stellen sich einige noch ungeschickter an, sodass sie den Hohn und das Geschrei der Vorgesetzten abbekommen.
Nun also seit einigen Wochen in einer Augsburger Kaserne. Grenadier-Ersatz- und Ausbildungsbataillon 320. Was die „Ausbildung“ in der Wehrmacht betraf, sollte sie Martin vom ersten Tag an zu spüren bekommen. Was den merkwürdigen Begriff „Ersatz“ betraf, erst einige Wochen später. Es kommt Martin vor, als sei er in einen jener Filme geraten, die ein ambulanter Filmvorführer einmal in seinem Dorf gezeigt hatte. Das, was damals auf der provisorischen Leinwand flimmerte, war für Martin ebenso fremd, verstörend und surreal, wie diese neue Welt in Augsburg. Er wankt von einem Tag zum anderen. Es ist nicht das ständige Angebrüllt-Werden von Feldwebeln und Unteroffizieren, das kannte er gut von seinem Bruder und den Oberknechten zuhause. Es ist auch nicht das monotone, kaum genießbare Kantinen-Essen, das so manchen seiner Kameraden schon nach den ersten Tagen in die Krankenstube treibt. In dieser Hinsicht ist Martin abgehärtet, denn auch zuhause war die Verpflegung eigentlich nur an Sonntagen genießbar. Nicht einmal das Geschnarche und Gerülpse in der nächtlichen Stube, die sich acht Mann zu teilen hatten, rauben ihm den Schlaf. Wenn er zuhause auf die Geburt eines jungen Fohlens wartete, hatte er sich immer in die Knechtekammer über dem Stall gelegt, wo es nicht viel gesitteter zuging. Und schließlich ist es nicht das ständige Frotzeln der Vorgesetzten und seiner sogenannten Kameraden über seine schmächtige, fast zwergenhafte Gestalt.
Schon das Finden einer einigermaßen passenden Uniform war peinlich gewesen und die Knobelbecher-Stiefel muss er ständig mit Zeitungspapier ausstopfen. Dass mittlerweile sein achtzehnter Geburtstag sang- und klanglos vorübergegangen war, ohne dass von zuhause jemand geschrieben hat, überrascht ihn auch nicht. Nein, all das kann er einigermaßen wegstecken. Es ist die unendliche Einsamkeit und Fremdheit, die ihm mit einem Schlag entgegentritt und schmerzt, ein durchdringendes Heimweh, und die Erkenntnis, dass er dieser unheimlichen Welt schutzlos ausgeliefert ist.
All das reflektiert Martin nicht bewusst. Seit dem Ende seiner Volksschulzeit hat er kein Buch mehr in die Hand genommen. Daheim in der Bauernstube hing nur der „Altöttinger Liebfrauenbote“ am Nagel, der ihn langweilte. Das Gefühl sinnloser Geworfenheit erkennt Martin nicht durch seine Gedanken, sondern sprachlos, aber leibhaftig mit der Bitterkeit seines jungen Herzens. Bei Martin waren es körperliche Gründe gewesen, dass er seit seiner Musterung im Bezirksamt zweimal als untauglich zurückgestellt worden war. Niemand hatte mehr mit seiner Einberufung gerechnet. Bei den meisten seiner sogenannten Kameraden waren es geistige und charakterliche Defizite, die dafür gesorgt hatten, dass sie jetzt, im Sommer 1944, nicht längst an irgendeiner Front Europas eingesetzt waren. Oder sie sind noch jünger als Martin und weinen nachts in ihren Betten. Und bei den wenigen Ausbildern sieht es nicht besser aus. Wer jetzt noch in einer heimatlichen Kaserne Dienst schiebt, ist kriegsversehrt, geistig schwach oder strafversetzt. Brutal, menschenverachtend und rücksichtslos auf jeden Fall.
Und so überrascht es Martin denn doch, als der Stabsfeldwebel ihn in sein Büro holen lässt und ihn einigermaßen gedämpft anspricht:
„Rekrut, jetzt reißen Sie sich zusammen, ich muss Ihnen eine familiäre Mitteilung machen. Ihr Vater ist verstorben.“
Mit diesen Worten überreicht er Martin eine mehrfach gestempelte Feldpostkarte.
„In der Regel haben Rekruten bei solchen Anlässen Anspruch auf ein paar Tage Urlaub“, fährt er fort, während er dumpf aus dem Fenster stiert. „Aber den kann ich Ihnen nicht mehr gewähren. Erstens sind Sie ja grad erst gekommen. Und zweitens werden Sie mit dem nächsten Schub an die Westfront gehen. Abtreten!“
5. Verklärung der Heimat
Wenn er wieder nach Hause kommen sollte, würde die Welt dort eine andere geworden sein, das spürt Martin instinktiv. Wie in allen bäuerlichen Familien war das Verhältnis zu den Eltern nüchtern und distanziert gewesen. Sie waren autoritäre Instanzen, denen man sich zu beugen hatte. Martins Vater befasste sich als kriegsversehrter Veteran, Großbauer und Bürgermeister kaum mit den Kleinkindern in seinem Haushalt. Erst wenn sie arbeitsfähig wurden (und das war schon im frühen Schulalter der Fall), traten sie in seinen Blick. Trotzdem wuchs dem kleinen Martin als Nesthäckchen eine Sonderrolle zu, zumal er auch eine gewisse Ersatz- und Trauerfunktion zu erfüllen hatte. Es hatte nämlich bereits einen Jüngsten mit Namen Martin gegeben. Ein Jahr vor der Geburt seines Nachfolgers war er mit drei Jahren an einer Lungenentzündung gestorben. Man hatte ihn an einem eisigen Wintertag begraben und nie mehr über ihn gesprochen. Ein Jahr später schlüpfte Martin, der Nachgeborene, in seine Rolle. Vielleicht wurde ihm deshalb ein wenig mehr Aufmerksamkeit zuteil als seinen Geschwistern. Es hat ihn später niemand nach diesen Umständen gefragt. Aber hätte es jemand getan, hätte Martin die Schultern gezückt und wäre etwas peinlich berührt gewesen.
Hier in der Augsburger Kaserne redet man über solche Dinge ohnehin nicht. Die Großspurigen prahlen von Weibern und Saufgelagen, die Kleinlauten stolpern wortlos über den Exerzierplatz. Martin gehört zu den Letzteren. Er macht sich so unsichtbar wie möglich und ist froh, wenn er gerade nicht zum Opfer derber Scherze wird. Je eintöniger der Kasernendienst, desto größer das Heimweh im Rekruten Martin. Und damit die Verklärung seiner kindlichen Heimat. Natürlich denkt er an die wenigen großen Ereignisse seine Kindheit. An die Christmetten und Kirchweihfeste, später an seine Erstkommunion und seine Firmung, wo man sich in der nahen Stadtpfarrkirche einfinden musste, um von irgendeinem Benediktinerabt den entsprechenden Segen zu erlangen. Später dann die Bauernhochzeiten seiner älteren Schwestern, wo er erste, etwas peinliche Erfahrungen mit Tanz und Trunkenheit zu machen hatte. Irgendwie ging es in seinen positiven Erinnerungen immer ums Essen. Im Wesentlichen aber treten eher unscheinbare Begebnisse in seine Erinnerung. Die sonnengereiften Birnen an der Hauswand, um die ihn die Schulkameraden beneideten. Das Spiel mit den Fohlen und Kälbern. Das zuerst mühsame, dann aber immer geläufigere Musizieren auf dem alten Akkordeon des Bruders. Das wortlose Nebeneinander mit seinem ewig an einem Stück Holz schnitzenden Freund Michael von Nebenan. Die harte Arbeit, der grobe Umgangston, ja auch die gelegentlichen Prügel, sie treten jetzt, in der Einsamkeit von Martins Nächten, eher in den Hintergrund. Oft greift er nach seinem Talisman, der kleinen Holzfigur Michaels.
6. Einbruch einer fremden Welt
Als Siebenjähriger, also 1933, durfte man schon mal auf dem Heufuder sitzen und sich vom gemächlich dahintrottenden Ochsen heimziehen lassen, den der ältere Bruder führte. Es gab bereits einen Traktor am Hof, aber für diese einfache Tätigkeit tat es das alte Zugtier auch noch. Martin und zwei seiner Schwestern saßen also auf dem schaukelnden Heuhaufen, den sie in den vom Dorf entfernt liegenden Moorgründen jenseits der Amper zusammengerecht hatten. Nach einiger Zeit kamen sie an den Mauern der ehemaligen Pulver- und Munitionsfabrik vorbei, über die man vom Fuhrwerk aus Einblick erhaschen konnte. Bisher war das Gelände immer leer und verlassen gewesen. Heute aber starrten alle drei Kinder auf das Gelände. Mehrere Dutzend Männer, alle in gestreifte Drillichanzüge gekleidet, hetzten hin und her, schleppten Holz und andere Baumaterialien oder rührten Zement in großen Bottichen an. Soldaten und Gendarmen fuchtelten mit den Armen und schrien so laut, dass man ihre Flüche über die Mauern noch hören konnte, als das Fuhrwerk schon seinen Weg zurück ins Dorf genommen hatte. Zuhause fragte man die Mutter, was man von dem Gesehenen halten sollte. Die zuckte nur die Schultern und meinte, dass man sich in derlei Dingen nicht einmischen sollte. Sicherlich werde an der alten Fabrik etwas ausgebessert. Sie wusste es aber besser. Vom ersten Tag an stand es in den Zeitungen: Vor den Toren des Dorfes entstand das erste Konzentrationslager Deutschlands. Und es dauerte keine paar Wochen, da durften die Heufuhrwerke der Bauern nicht mehr an den Mauern, die jetzt mit Stacheldraht bewehrt sind, vorbeifahren.
In dieser Zeit kam es in der Dorfwirtschaft noch zu Schlägereien. Großspurige SS-Männer aus dem nahen Lager machten sich an die jungen Dorfmädchen heran, die sich allerdings auch nicht lange betteln ließen. Anfänglich muckten die halbstarken Burschen des Dorfes gegen sie auf, doch als die SS-Männer den ein- oder anderen von ihnen halbtotgeschlagen hatten und der Bürgermeister zur Lagerleitung beordert wurde, wagte keiner mehr irgendwelchen Widerstand.
Martin mit seiner Schmächtigkeit konnte das Geschehen ohnehin nur aus der Entfernung beobachten. Aber auch er spürte instinktiv das Unheimliche der neuen Zeit. In der Schule, wo sieben Jahrgänge in ein- und demselben Saal saßen, mussten sie jetzt alle aufspringen, wenn der Lehrer hereintrat und „Heil Hitler“ brüllen. Dann wurden Lieder gesungen, die sie bisher nicht kannten und erst mühsam lernen mussten. Der Lehrer dichtete vaterländische Gedichte, die die Kinder auswendig zu lernen hatten. Die Prügelstrafe in Form des „Tatzensteckens“ kam täglich zur Anwendung, aber das war vor 1933 auch schon so gewesen. Martin wunderte sich nicht, machte sich möglichst unsichtbar und ließ den Drill über sich ergehen. Er war allerdings froh, dass er nach der Schule nicht an den Wehrübungen der Hitlerjugend teilnehmen musste. Das hatte sein Vater durchgesetzt. Der Junge sei zu schmächtig. Das war offenkundig.
Die Haltung des Klerus zu den neuen Machthabern war ambivalent. Wie auch der ferne Kardinal in München waren die Dorfpfarrer Monarchisten und hielten die Republik für abscheulich und religionsfeindlich. Sie prügelten ebenso wie die Lehrer und beteten für den Führer. Andererseits wollten sie sich in kirchlichen Dingen nichts dreinreden lassen. Das Kreuz in der Schule blieb für´s Erste hängen, obwohl der Lehrer nörgelte. Dem Kaplan sagte man unter vorgehandener Hand nach, er taufe die Kinder der SS, wenn die Kindsmütter heimlich zu ihm kommen. Die Väter durften das natürlich nicht erfahren. Zu hohen Feiertagen kam auch der Stadtpfarrer in´s Dorf, ein übergewichtiger Militärpfarrer aus dem Ersten Weltkrieg. Vor ihm kuschten alle, auch der Bürgermeister. Er war der Einzige, der gelegentlich in das nahe Lager durfte. Dann brachte er den gefangenen Geistlichen, meist polnischer Herkunft, kleine Lebensmittelpakete. Ansonsten kollaborierte er mit den Nazis und wurde nach 1945 von seinem Kardinal zum Prälaten ernannt.
7. Aufbruch nach Norden
Auf einmal Aufregung in der Kaserne. Marschbefehl an die Westfront. Auch von einem misslungenen Attentat auf den Führer munkelt man. Die Vorsehung habe ihn wieder geschützt, heißt es. Es habe Hinrichtungen gegeben, der Endsieg stünde unmittelbar bevor. Die Offiziere laufen mit eisiger Miene über den Kasernenhof. Die Unteroffiziere brüllen. Martin und etwa dreißig seiner Kameraden müssen in aller Eile ihre Tornister packen. Marschgepäck und Infanterie-Bewaffnung. Verpflegung für vierundzwanzig Stunden. Martin kann das alles kaum tragen. Die letzte Untersuchung stellt immer noch eine Größe von 155 Zentimeter und ein Gewicht von 45 Kilogramm fest. Die Feldwebel fluchen. In letzter Minute eine Ansprache des Kompaniechefs. Sie alle seien jetzt keine Rekruten mehr, sondern Grenadiere, die ihre Pflicht für das Vaterland und für den Führer zu erfüllen hatten. Welche Pflichten? Ehe Martin sich vorsieht, sitzt er auf der Ladefläche eines Lastwagens. Eine Stunde später dann auf dem strohbedeckten Boden eines Güterwaggons. Der Zug rattert los in Richtung Norden. Die Kameraden blicken dumpf und schweigsam vor sich hin. Auch die vor kurzem noch Großmäuligen sind still. Nach außen kann man keinen Blick erhaschen.
Martin sitzt seit Stunden im Waggon und träumt vor sich hin. Er denkt an einen debilen Jungen aus dem Dorf und seine Geschichte. Zwischen den windschiefen, netzlosen Toren tobt Tag für Tag die Fußballschlacht der dörflichen Jugend. Tritt einer zu ungestüm gegen den Ball, rollt dieser in den nahen Bach und muss unter lautem Gejohle geborgen werden. Einer spielt nie mit. Er ist viel älter als die Bubenschar, dick und unbeweglich. Mit leerem Gesichtsausdruck steht er am Rande des Feldes und glotzt. Den anderen Jungen ist er unheimlich. Aber er hat eine Geschichte. Jeder im Dorf kennt sie. In unzähligen Varianten wird sie erzählt. Die wahrscheinlichste lautet so: Als die Soldaten mit den schwarzen Uniformen am Rande des Dorfes auftauchten und ihre gestreiften Häftlinge zwangen, aus der alten Pulver- und Munitionsfabrik ein Gefangenenlager zu machen, war Leonhard, so heißt der kleine Junge, vielleicht zehn Jahre alt. Da er in keiner Schule zu gebrauchen ist, strolcht er mit seinem kleinen Hund stundenlang in der Umgebung umher. Niemand macht sich Sorgen um ihn, Leonhard hat immer wieder von selbst heimgefunden. Die Neugierde treibt ihn oft hinaus aus dem Dorf und hinüber in die flachen Streuwiesen des Dachauer Mooses. Vor allem jetzt, wo dort etwas Neues, Aufregendes im Entstehen war. Etwas, was den kleinen, dummen Jungen magisch anzieht.
Leonhard muss keine halbe Stunde wandern, da steht er vor Stacheldraht und Schildern. Unter dem Stacheldraht kann er mühelos hindurchschlüpfen, die Schilder beachtet er nicht, er kann sie ohnehin nicht lesen. Noch ein Zaun ist zu überwinden und noch eine Mauer, der kleine Hund immer hinterdrein. In der Ferne marschieren Menschen in sonderbar gestreiften Kleidern. Leonhard findet all das abenteuerlich und pirscht sich voran. Plötzlich steht er auf einem großen, gekiesten Platz. Wie lange es gedauert hat, bis die Wachen auf ihn aufmerksam werden, kann er später nicht mehr sagen. Nur dass sie ihn scharf anschnauzen, ihm Ohrfeigen verpassen und heftig schütteln, als er ausbüchsen will. Wer zum Teufel er sei, schreien sie ihn an, wie er denn bis hierhergekommen sei? Leonhard weiß auf all das nichts zu sagen. Nur eines kommt ihm über die Lippen. Sein Standartspruch, wenn ihn die anderen Buben des Dorfes wieder einmal übel mitspielen wollen. „Loslassen“, beginnt er jetzt zu plärren. „Loslassen, oder ich hol´ meinen Vater! Der hat Sprengstoff! Der sprengt euch alle in die Luft!“ Sprengstoff? Die Männer blicken sich an. „Wo wohnst du, Kerl? Führ uns dort hin! Komm, wir bringen dich nach Hause…“. Es dauert keine halbe Stunde, da ist die elterliche Hofstelle von SS umstellt und alle Bewohner in´s Freie gezerrt. Es hagelt Drohungen und Flüche. Scheunen, Stallungen und Keller werden durchsucht, der Bauer muss seinen Heuvorrat Büschel für Büschel abtragen. Die fremden Männer sehen mit finsterer Miene zu und stochern mit Eisenstangen im Heu herum. Schäferhunde durchstöbern alle Winkel des Hofes. Von Sprengstoff ist natürlich keine Spur zu finden, der hat immer nur in der Phantasie des kleinen Leonhard existiert. Aber Gott sei Dank taucht auch kein alter Karabiner aus dem Ersten Weltkrieg auf, oder ein Stück schwarz geschlachtetes Schweinefleisch.
Nach einer Stunde ziehen die Soldaten ab. Die Bauersleute bleiben kreidebleich zurück. Nur Leonhard steht am Rande und glotzt. Den Jungen ist er unheimlich. Aber er hat eine Geschichte. Martin denkt gerne an ihn.
8. Bittere Gänge
Am 1. September 1939 stand in den Zeitungen, dass in Polen endlich die Rechte der deutschen Minderheit durchgesetzt werden und deshalb „zurückgeschossen“ werde. Die Wehrmacht habe die Grenzen bereits überschritten. Es dauerte nicht lange, bis in viele Haushalte des kleinen Dorfes amtliche Briefe flatterten. Sie enthielten die unmissverständliche Botschaft, dass die jüngeren Männer des Ortes ihrer Militärpflicht nachzukommen hatten. In dem kleinen Dorf mit 350 Seelen waren letztlich rund zwanzig junge Burschen und erwachsene Männer betroffen. Manche von ihnen waren längst fern der Heimat und verrichteten irgendwo in Deutschland einen harten „Arbeitsdienst“ für das „Tausendjährige Reich“. Es dauerte wiederum nicht lange, bis wieder amtliche Briefe in das Dorf flatterten Dieses Mal wurden sie dem Bürgermeister, Martins Vater, zugestellt. Er hatte – wie schon sein Vorgänger vor dreißig Jahren – die bittere Pflicht, sie in die betroffenen Familien zu überbringen. Es waren Todesnachrichten. Mütter sanken vor seinen Augen zusammen, wettergegerbte Bauern brachen in Tränen aus. Aber sie sagten nichts. Eisiges Schweigen, bis der Bürgermeister wieder den Hof verließ. Nach und nach hatte er zwölf solche Gänge zu gehen. Er spürte, dass die Leute schon zitterten, wenn sie ihn von weitem sahen. Einmal war Gestapo und SS im Dorf. Es ging das Gerücht, dass der Sohn eines Bauern an der Front Suizid begangen hatte. Selbstmord galt als verwerfliche Wehrkraftzersetzung. Man verhörte die ganze Familie, auch den kleinen Bruder, den man in aller Eile von seiner Lehrstelle holen musste.
Im April 1942 war wieder einer dieser Briefe dem Bürgermeister zugestellt worden. Aber dieses Mal musste er seinen Hof nicht verlassen, um eine schlimme Nachricht zu überbringen. Der Brief, unterzeichnet von einem Oberleutnant Leiterer, betraf ihn selber. Sein Sohn und Hoferbe war an der Ostfront bei Smolensk gefallen. Als Fahrer einer Sanitätskompanie war der 27jährige in feindliches Granatfeuer geraten. Splitter im ganzen Körper. Der Tod trat erst nach mehreren Tagen ein. Der Bürgermeister schloss sich eine Stunde lang in der Werkstatt ein. Dann suchte er mit eingefallenem Gesicht seine Frau. Martin war zu diesem Zeitpunkt sechzehn Jahre alt. Er fand seine Eltern schweigend und versteinert am Küchentisch.
9. Abwehrkampf um Trier
Die Fahrt mit dem Güterwaggon zieht sich endlos dahin. Die Verpflegung besteht aus Kommissbrot und Wasser. Martin kauert in einer Ecke und hängt seinen Gedanken nach. Er versteht nicht, was mit ihm geschieht. Das Geplapper der anderen erstirbt nach und nach. Einige versuchen zu schlafen.
Viele Stunden später plötzlich das Quietschen der Bremsen. Als die Schiebetüren des Waggons aufgerissen werden, sieht Martin, dass es Nacht ist. Der Zug steht in einem unbekannten und unbeleuchteten Provinzbahnhof. Scharfe Befehle der Feldwebel. Die jungen Kerle werden auf offene Lastwägen verladen und in die Nacht gefahren. Nach und nach spricht sich die Lage herum. Man ist in der Nähe von Trier, das bereits heftig umkämpft ist. Der erste Kampfeinsatz der völlig unzureichend ausgebildeten Rekruten. Von Ersatz kann keine Rede sein. Sie werden dem Grenadier-Regiment 316 zugeteilt, das bereits erheblich dezimiert ist, und auf deren Stellungen in der Umgebung Triers verteilt. Die Soldaten, die bisher Dienst taten, sind ausgezehrt und empfangen die Neuankömmlinge mit Flüchen. Es ist offenkundig, dass dieser Ersatz keine Hilfe sein wird. Die folgenden Tage und Wochen sind die Hölle. Unter nahezu ständigem feindlichen Beschuss leben Martin und die anderen in irgendwelchen Schützengräben und Sumpflöchern. Es ist ständig regnerisch und neblig. Martin ist nass und kalt bis auf die Knochen. Man traut ihm keine großen Aufgaben zu und verdonnert ihn zum Granaten-Schleppen. Das tut er bis zur Bewusstlosigkeit. Mehrfach stoßen ihn Soldaten in die Seite, um ihn aufzuwecken. Auf Schlaf im Dienst steht die Todesstrafe wegen Wehrkraftzersetzung. Martin denkt nicht mehr an Zuhause, wie ein Automat erfüllt er seine Aufgaben, so gut es geht.
In einer Kampfpause ergibt sich eine skurrile Situation. Die jungen Soldaten, keiner älter als zwanzig, drängen sich in einem der wenigen Bunkerräume. Martin versteht ihre verschiedenen Dialekte kaum. Geschützfeuer kommt näher. Um die verängstigten Jungen zu beruhigen, lässt der diensthabende Offizier eine Schnapsflasche kreisen. Dann fragt er:
„Wer von euch Bengels kann Akkordeon spielen?“
Damit deutet er auf ein zerfleddertes Instrument in der Ecke, das wohl einem längst Gefallenen gehört hat. Martin weiß nicht, was er tut, aber er meldet sich.
„Na los, spiel was!“, hört er.
Wie in Trance nimmt Martin das Instrument und beginnt unsicher zu spielen. Die anderen schauen ihm zu wie einem Gespenst. Manche beginnen zu weinen.
11. Tod mit 18 Jahren
Tags darauf Schreie und Befehle in aller Herrgottsfrühe. Das Wort von der „Ardennenoffensive“ macht unter den Vorgesetzten die Runde. Was bedeutet das? Wo sind die Ardennen? Wo müssen wir hin? Was Martin und die Seinen nicht wissen können: Hitlers „Ardennenoffensive“ soll in einem Überraschungsangriff die vorrückenden alliierten Truppen aufhalten und deren Nachschubhafen Antwerpen angreifen. Nach kurzen Geländegewinnen der Wehrmacht gewinnen die Alliierten unter US-General Eisenhower allerdings die Oberhand und vernichten große Teile der deutschen Einheiten. Am 22. und 23. Dezember 1944 kommt es um Echternach zu schweren Gefechten, der vor allem die jungen, unausgebildeten und unausgerüsteten deutschen Jahrgänge zum Opfer fallen. Einem Bericht des verwundeten und überlebenden Gefreiten Friedrich Gürge zufolge, könnten sich die letzten Stunden Martin folgendermaßen zugetragen haben:
16. Dezember 1944: Überraschender Befehl zum Aufbruch aller rund um Trier stationierten deutscher Truppen. Verlustreicher Vorstoß an den luxemburgischen Grenzfluss Sauer. Die Brücke bei Weilerbach steht unter Artilleriebeschuss der Alliierten.
18. bis 21.Dezember 1944: Vorstoß der deutschen Grenadiere über die Echternachbrücke nach Luxemburg, Straßenkämpfe in Echternach.
21. Dezember 1944: Weiterer Vormarsch auf der Landstraße Richtung Luxemburg. Die Landstraße steigt nach Echternach langgezogen in Richtung Luxemburg an und ist teilweise vermint.
22. Dezember 1944: Als die Einheit Martins – nach der Abzweigung in Richtung Scheidgen, zwei Kilometer westlich von Echternach, – ein Waldgebiet verlässt, gerät sie unter plötzliches Maschinengewehrfeuer der Alliierten, vermutlich vom Gehöft Michelsberg aus. Einige deutsche Soldaten können sich in die zerstörte Villa Deltgen retten, die meisten werden getötet.
Vermutlich fällt Martin gegen 13.30 Uhr durch eine Maschinengewehrsalve in die linke Körperhälfte.
12. Epilog
Das militärhistorische Museum Diekirch (Nordluxemburg) zeigt heute ein Foto mit einem Haufen übereinandergestapelter, blutgetränkter Leichen im Schnee. Vermutlich handelt es sich um die Gefallenen der Schlacht um Echternach, der auch Martin zum Opfer gefallen ist.
Man identifiziert Martin anhand seiner dienstlichen Erkennungsmarke, die er um den Hals tragen muss. In seiner Uniformjacke findet man ein unbeholfen geschnitztes Holzfigürchen.
Zunächst werden die Toten notdürftig verscharrt, nach 1945 dann exhumiert und auf dem Soldatenfriedhof Sandweiler (Luxemburg) bestattet. Zuhause fühlt sich der nationalsozialistische Lehrer Martins bemüßigt, zu dichten:
Als Jüngster aus dem trauten Kreis
der treuumsorgten Lieben
gab nun auch Martin Höchstes preis,
ist vor dem Feind geblieben.
Der Zarte musste, Männern gleich,
gewohnt, das Schwert zu führen,
den Einsatz wagen für das Reich,
daß wir es nicht verlieren.
Hat auch des Tapfern Spur verweht
ein rasend Trommelfeuer,
wie lebend er jetzt vor uns steht,
so brav, so lieb, so teuer.
Auch Martins junger Freund Michael hatte zuhause nicht mehr lange zu leben. Vier Monate später, im April 1945 trifft ihn die Kugel eines flüchtenden KZ-Bewachers, der sein Fahrrad entwenden will. Sein Vater stirbt 1947 im Alter von 47 Jahren an Herzversagen. Die Mütter von Martin und Michael erreichen ein hohes, aber emotionsloses Alter.
Martin Göttler war der Onkel des Verfassers.