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Tradition und Traditionalismus

„Getreu unserer Tradition!“
„Traditionelles Handwerk!“
„Es ist gute Tradition, dass…“

 

Nach antik römischem Recht war die „traditio“ die Besitzübergabe eines beweglichen Gegenstandes, z.B. durch Verkauf oder Vererbung. Heute hat sich die Bedeutung des Wortes im Sinn eines „kulturbildenden Prozesses“ verändert. Wenn Generationen ihre Handwerkstechniken, Künste, Bräuche, Gepflogenheiten, Glaubensvorstellungen und Konventionen an eine nächste weitergeben, entsteht „Tradition“ (lat. tradere: hinübergeben, weitergeben). Als Tradition wird dabei sowohl der Akt der Weitergabe wie auch dessen Inhalt bezeichnet. Dieser Weitergabeprozess kann mündlich oder schriftlich, streng ritualisiert oder locker spielerisch geschehen. Traditionsbildung beginnt schon im Tierreich, etwa bei Krähen und Schimpansen, und kann im menschlichen Umfeld komplexe Formen in Sprache, Wissenschaft und Gesellschaft annehmen. Ohne Tradition ist Kulturbildung nicht denkbar – keine Generation ist in der Lage, sich neu zu erfinden. Soziologische gesprochen bildet Tradition kulturelle Leitmuster („guilding patterns“) aus und lässt auf diese Weise die Vergangenheit in die Gegenwart hinein wirksam werden.

Tradition aber generiert – für sich allein gesehen – noch keinen kulturellen Fortschritt. Erst wenn der Weitergabeprozess angereichert wird mit neuen Erfahrungen und Erkenntnissen, dann wächst langsam das, was wir Kultur nennen. Kulturbildung ist also eine Kombination aus Alt und Neu, aus Vergangenheit und Zukunft.

Manche gesellschaftlichen Gruppen beharren in ihrem Denken und öffentlichen Erscheinen eher auf dem bewahrenden Teilsaspekt von Tradition, andere auf dem progressiven (lat. progredi: voranschreiten), Neues schaffenden Teilaspekt. Erstere übersehen oft geflissentlich, dass historisches Kulturgut die – nicht selten heiß umstrittene – Avantgarde von einst ist, zweitere, dass kulturelle Neuschöpfungen vielleicht bald Ladenhüter von Gestern sein werden. Bewahren und Neuschaffen, Sesshaftmachung und Aufbrechen sind menschliche Existentiale, die in jedem von uns stecken.

Jeder Mensch hat – der Philosophie Karen Joisten zufolge – eine „heimhafte“ und eine „weghafte“ Seite. Diese bipolare Erfahrung wird schon im Buch Genesis der Bibel thematisiert. Adam wird gesagt: „Gott nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, damit er ihn bebaue und bewache“ (Genesis 2,15). Bewachen. Also bleiben. Sesshaft bleiben.
Nur wenige Kapitel später hingegen hört Abraham: „Ziehe fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus, in das Land, das ich dir zeigen werde.“ (Genesis 12,1).

Jeder von uns hat eine adamitische und eine abrahamitische Seite. Die biblische Antinomie warnt uns davor, einseitige Menschenbilder aufzustellen. Menschen, die mehr dem „Heimhaften“, Traditionellen, Konservativen zuneigen, haben ihre Stärken im Ordnen, Schützen, Verantwortung übernehmen, Traditionen weitergeben. Diese Stärken können aber zu Traditionalismus und Intoleranz verhärten. Eher „weghafte“, kosmopolitische, progressive Menschen sind geprägt durch Offenheit, Innovation und Neugierde. Ihre Verhärtungsgefahr besteht in Rastlosigkeit, Leere, Heimat- und Orientierungslosigkeit. Der „heimhafte“ wie der „weghafte“Traditionsbegriff, sie können beide glücken wie scheitern. Man kann mit seiner Lebensleistung versuchen, die Balance zwischen diesen beiden Polen zu wagen, die Gegensätze zu integrieren. Man kann aber auch auf zwei Seiten vom Pferd fallen.

 

Traditionalismus und „erfundene Traditionen“

Ethisch gesehen ist das Wort „Tradition“ erst einmal nichtssagend. Auch Räuberbanden haben Traditionen. Nichts auf dieser Welt entbindet uns davon, nachzufragen, welche Traditionen es denn Wert sind, „tradiert“ zu werden und welche nicht. Die Traditionsfrage ist untrennbar mit der Wertefrage verbunden. Die Menschheitsgeschichte kennt eine Unzahl von ehemaligen Fähigkeiten, Bräuchen und Überzeugungen, die zurecht aufgegeben wurden. Tradition wird dann problematisch, wenn sich Formen verselbständigen, deren ursprünglicher Sinn verloren gegangen ist. Wer Traditionen ungeachtet ihrer Sinnhaftigkeit weitergeben will, baut am Gebäude eines ideologischen Traditionalismus.

Unkritische Traditionalisten greifen oft eine bestimmte historische Epoche heraus und setzen sie absolut, z.B. katholische Traditionalisten die Zeit nach dem Unfehlbarkeitsdogma des Ersten Vatikanischen Konzils 1870. Traditionen können gegenwärtiges Handeln beeinflussen, deswegen werden sie nicht selten aus ideologischen Gründen instrumentalisiert.

Seit den 1980er Jahren wird in der Soziologie der vom Briten Eric Hobsbawm eingeführte Begriff der „erfundenen Tradition“ diskutiert. Danach sind viele Traditionen, die sich auf uraltes Herkommen berufen verhältnismäßig jung und in ihrer historischen Bedeutsamkeit überhöht. So stammen auch viele bayerische Trachten und Bräuche nicht aus uralten Zeiten, sondern aus dem 19. Jahrhundert. Traditionalistische Klischees berufen sich gerne auf ein uraltes Herkommen. Bei genauerem Hinsehen reduziert sich diese vermeintliche Würde meist auf wenige Generationen. Eine kleine Aufzählung belegt diese These: Oktoberfest (1810), Nationaltheater (1818), Münchner Kindl (1847), Marienplatz (1854), Weißwurst (1857) und Schäfflertanz (1871). Auch viele, „typisch oberbayerische“ Formen von Tracht, Mundart und Volksmusik entstanden erst in dieser Zeit. Die damaligen bayerischen Staatslenker erkannten die symbolische Bedeutung einer gemeinsamen Tradition für den neuen Staat Bayern und nutzten sie kräftig.

Editorische Notiz zur Reihe „Gedanken aus Dachau“

Solange es eine zivilisierte Menschheit gibt, wird der Name „Dachau“ mit seinem 1933 bis 1945 von den Nationalsozialisten betriebenen Konzentrationslager im kollektiven Gedächtnis als Symbol der Menschenverachtung belegt bleiben. Das Bemühen vieler, die Stadt heute als Lernort gegen totalitäre Gewalt zu etablieren, verdient allen Respekt und jegliche Unterstützung. Neben einer akribischen Geschichtsaufarbeitung sollten von solch einem Lernort auch Impulse der gegenwärtigen Menschenrechts- und Demokratiedebatte ausgehen.
Für dieses Anliegen möchte die vorliegende Reihe „Gedanken aus Dachau“ einen kleinen Beitrag leisten. Die Texte von Norbert Göttler verstehen sich als komprimierte Arbeits- und Argumentationshilfen sowie als Inspiration zum Weiterdenken.

Dr. phil. Norbert Göttler, 1959 in Dachau geboren, studierte in München Philosophie, Theologie und Geschichte. 1988 wurde er im Fach Sozial- und Wirtschaftsgeschichte promoviert. Er arbeitet als Publizist, Fernsehregisseur und Schriftsteller. Göttler ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums und Vize-Dekan an der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Von 2011 bis 2023 war er Bezirksheimatpfleger von Oberbayern. 2004 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.