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Was sollen wir tun? Gesinnungsethik oder Verantwortungsethik?

Ob man die Begriffe Ethik und Moral mag oder nicht – die Frage, wie unser Tun und Unterlassen verantwortet werden kann, wie wir Recht und Unrecht unterscheiden, beschäftigt uns Menschen seit Jahrtausenden. Wer nicht gerade in einen zynischen Relativismus verfallen ist, dem stellt sie sich täglich im privaten, sozialen und politischen Umfeld.

Wie aber kommt man von der Frage zu einer einigermaßen befriedigenden Antwort? Die meisten würden wohl antworten: durch das Hören auf eine innere Stimme, auf ein Gewissen, auf eine spontane Eingebung – oder wie immer man das Gefühl nennen mag, das unser Tun und Lassen für gewöhnlich beeinflusst.

Nun kennt auch moderne Ethik den Begriff der Intuition und reflektiert dessen Möglichkeiten und Grenzen, Voraussetzungen und Gefahren. Sie weist aber darauf hin, dass man sich der Baustelle des Guten und Bösen auch mit dem – zugegeben immer begrenzten – Handwerkszeug der Vernunft nähern kann. Auf dieses Feld möchte sich der folgende Artikel begeben. Das Identifizieren von Argumentationsmustern könnte manch heutige Diskussion versachlichen.

Den Fachleuten sei´s gleich zugegeben: Die in der Überschrift genannten, auf den Soziologen und Nationalökonomen Max Weber (1864-1920) zurückgehende Begriffe „Gesinnungsethik“ und „Verantwortungsethik“ sind über hundert Jahre alt und werden in der modernen ethischen Diskussion kaum mehr verwendet. Sie sind von Modellen ersetzt worden, die differenzierter auf die Erfordernisse der Gegenwart eingehen und haben komplizierte Begriffe hervorgebracht wie deontologische und teleologische Ethik, utilitaristische und konsequentialistische Ethik. Ansatzweise sollen auch sie im Folgenden erklärt werden.

Dennoch ist das Begriffspaar „Gesinnungsethik und Verantwortungsethik“ immer noch geeignet, einen ersten Einstieg in entsprechende Überlegungen zu leisten und soll an dieser Stelle deshalb auch verwendet werden.

 

1. Gesinnungsethik

Menschen, die einer Gesinnungsethik anhängen, haben ein klar umrissenes System an Werten und Prinzipien entwickelt, eben eine Gesinnung, der sie sich ungeachtet irgendwelcher Handlungsfolgen verpflichtet fühlen. Der Ansatz wird heute als „deontologische Ethik“ (gr. deon = die Pflicht) bezeichnet.

Als Extrembeispiele werden immer wieder genannt: Zeugen Jehovas, die Bluttransfusionen ablehnen, auch wenn damit Leben gefährdet wird. Oder Menschen, die den Kriegsdienst verweigern, auch wenn ihr Land überfallen wird oder wenn sie – in bestimmten Staaten – deswegen selbst mit Tod und Lagerhaft bedroht werden. Oder: Menschen, die Lügen unter allen Umständen ablehnen, auch lebensrettende Notlügen.

In gewisser Weise stellt der „Kategorische Imperativ“ Immanuel Kants (1724-1804) eine Form deontologischer Ethik dar: „Handle nur nach denjenigen Maximen, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werden“.

Aber auch in heutigen Situationen stellen sich gesinnungsethische Fragen:

Darf ein Flugzeug voller unschuldiger Menschen abgeschossen werden, wenn es von Attentätern als fliegende Bombe in ein Fußballstadion gelenkt wird? Manch ein Gesinnungsethiker würde sagen: Nein, niemals! Man darf nicht Leben gegen Leben aufrechnen!

Darf eine Abtreibung vollzogen werden, wenn eine Fortführung der Schwangerschaft ein hohes psychisches oder physisches Risiko für die Mutter darstellen würde? Manch ein Gesinnungsethiker würde sagen: Nein, niemals! Man darf menschliches Leben nicht töten, auch nicht ungeborenes!

Bewertung:
Eine radikale Gesinnungsethik zeugt zweifelsohne von hohem moralischem Ernst, ist aber auch dogmatisch, kompromisslos und damit gelegentlich wenig alltagstauglich. Starres Festhalten an Prinzipien kann für das Gewissen des Einzelnen durchaus alternativlos sein. Dem Nutzen der Allgemeinheit wird es damit nicht immer gerecht. Auch beachtet eine radikale Gesinnungsethik nicht, dass unser Wertekanon einem evolutiven und historischen Veränderungsprozess unterworfen ist. So haben sich etwa die strengen Fast- und Speisegebote unserer Vorfahren innerhalb weniger Jahrzehnte fast vollständig aufgelöst.

 

2. Verantwortungsethik

Der Begriff wurde von Max Weber als Gegenbegriff zur „Gesinnungsethik“ aufgestellt. Er meinte damit moralische Überlegungen, die weniger einen starren Wertekanon, sondern vor allem die erwartbaren Konsequenzen einer Handlung im Blick haben. Verantwortungsethisch sind Handlungen vorzuziehen, die voraussichtlich einen größtmöglichen Nutzen für alle Beteiligten mit sich bringen. Dieser Ansatz wird heute eher „teleologische Ethik“ (gr. telos = Ziel) oder „konsequentialistische Ethik“ genannt. Als Beispiele seien genannt:

Prinzipiell möchte jemand die Umwelt durch den Verzicht auf ein eigenes Auto schonen. Da er aber ein krankes Kind und eine gehbehinderte Mutter hat, entscheidet er sich, für eine Übergangslösung ein Auto zu kaufen.

Oder: Ein demokratischer Staat treibt mit diktatorischen Staaten Handel. Erstens, weil er erwartet, dass seiner eigenen Bevölkerung daraus wirtschaftliche Vorteile (z.B. billige Ölpreise) erwachsen. Zweitens, weil er hofft, Handelsbeziehungen würden auch totalitäre Staaten zu mehr Öffnung und Liberalisierung veranlassen.

Überzeichnende Varianten einer Verantwortungsethik stellen die Konzepte „Hedonismus“ und „Utilitarismus“ dar. Hedonismus (gr. Hedoné = Lust) fordert die Maximierung von Lust, Utilitarismus (lat. utilis = nützlich) die Maximierung von Nützlichkeit als Folge aller menschlichen Handlungen. Ihre Hauptvertreter waren David Hume (1711-1776), Jeremy Bentham (1748-1832) und John Stuart Mill (1806-1873).

Bewertung:
Verantwortungsethisches Handeln erscheint flexibler, kompromissbereiter und damit alltagstauglicher als gesinnungsethisches Handeln. Aber: Nicht immer kann man die Konsequenzen einer komplexen Handlung komplett überblicken. Manch gutgemeintes, kompromissorientiertes Handeln hatte schon katastrophale Folgen. Zudem fehlt einer radikalen Verantwortungsethik oft eine Hierarchie von Werten und die klare Absage an Verbrechen, die immer und unter allen Umständen verwerflich sind (z.B. Mord, Völkermord, Folter, etc.). Die Grenze zur ethischen Beliebigkeit, d.h. zur Auffassung, alles ist gerechtfertigt, was mir und meiner Gruppe nutzt, ist fließend. Aber nicht jeder Zweck heiligt die Mittel.

 

3. Vermittlung zwischen deontologischer Gesinnungsethik und teleologischer Verantwortungsethik

Schon Max Weber hat auf die Vorläufigkeit seiner diametralen Fragekonstruktion „Gesinnungsethik oder Verantwortungsethik?“ hingewiesen und so einen wissenschaftlichen Diskurs angestoßen, der zwischen beiden Konzepten zu vermitteln sucht. Drei Positionen, die alle einen Rekurs auf religiöse oder naturrechtliche Bezüge vermeiden, haben sich aus dieser Debatte heraus entwickelt:

3.1. Prinzipienpluralismus nach William David Ross, Oxford (1877-1972)

Seine These: Es gibt deontologische Prinzipien (z.B. Gerechtigkeit, Wohltätigkeit, Friedenswillen etc.), aber diese können in Konkurrenz zueinanderstehen und müssen im Alltag je konsequentialistisch, also in Hinblick auf mögliche Folgen gegeneinander abgewogen werden. Durch lange kollektive Erfahrung hat der Mensch ein belastbares Wissen über Gut und Böse entwickelt. Er verfügt dafür eine gewisse Intuition, nicht aber über einen unfehlbaren „sechsten Sinn“.

3.2. Regelutilitarismus nach Richard B. Brandt (1910-1997, USA) und John Rawls (1921-2002, USA)

Ihre These: Gesinnungsethik kann einen allgemeinen Rahmen unseres Verhaltens schaffen, nicht aber jede konkrete und einzelne Handlung beurteilen. Diese muss in jeder Situation neu konsequentialistisch bewertet werden. Völliges Fehlen von Gesinnung überfordert den Menschen in jeder konkreten Situation, völliges Fehlen von verantwortungsvoller Güterabwägung hingegen macht ihn lebensunfähig.

3.3. Diskursethik nach Jürgen Habermas (geb. 1929, Deutschland)

Seine These: Ein breiter gesellschaftlicher Diskurs übernimmt die bisherigen ethischen Konzeptionen. Auch die Moral muss argumentativ reflektiert werden, die Diskurstheorie gilt auch für die Ethik. Dieser Diskurs kann keine Letztbegründungen ethischer Forderungen liefern (gegen jeden Dogmatismus), kann aber Annäherungen liefern (gegen jeden Skeptizismus).

 

4. Die anthropologische Basis: Vernunft, Erfahrung, Freiheit

Welcher Konzeption man auch immer nahesteht, alle setzen sie voraus, dass der Mensch wenigstens in einem gewissen Maß fähig ist, ethisch zu handeln. Sollen setzt Können voraus. Ethische Forderungen, die unerfüllbar sind, sind sinnlos. Hat der Mensch nun die innere Freiheit, in jeder Situation je auch anders handeln zu können, oder nicht?

Auch diese Frage wurde in der Vergangenheit kontrovers diskutiert. In den Extremen wurden absolute Freiheit sowie das völlige Fehlen von Willens- und Handlungsfreiheit postuliert.

Die Mehrheit der heutigen Philosophen und Anthropologen sprechen sich für eine, zwar durch viele Faktoren eingeschränkte, aber doch vorhandene ethische Disposition des Menschen aus. Er sei zwar nicht per se ein „animal morale“, aber ein „animal morabile“, d.h. ein wenigstens grundsätzlich zu ethischen Entscheidungen fähiges Lebewesen. Wo die Grenzen dieser Fähigkeit liegen, haben u.a. auch empirische Wissenschaften wie etwa Neurologie und Neuro-Philosophie zu prüfen.

Grundsätzlich ist ethisches Denken eine evidente Alltagserfahrung: Wir werden für Normverletzungen verantwortlich gemacht und machen uns selbst verantwortlich. Dies gilt prospektiv und retrospektiv. Dabei wird nicht nur die Tat kritisiert, sondern auch der Täter.

Für ein Mindestmaß an Freiheit sprechen auch intellektuelle Argumente. Sie vollständig zu leugnen, wäre ein pragmatischer Widerspruch: Wer jegliche Willensfreiheit leugnet, nimmt sie aber für den Wahrheitsanspruch seiner eigenen These in Anspruch.

Philosophische Ethik basiert heute auf ein Mindestmaß an Vernunft und Erfahrungsoffenheit, auf die Kraft des Arguments und des Diskurses. Sie akzeptiert, dass auch ethische Normen evolutiven und historischen Wandlungsprozessen ausgesetzt ist, ohne darüber in relativistische Beliebigkeit zu verfallen. Sie setzt weiter auf ein Mindestmaß an Freiheit des Menschen, über den genetisch-triebhaften Zwang auch alternative Lebens- und Handlungsentwürfe realisieren zu können.

Ethos und Moral – so verstanden – stabilisieren menschliche Gesellschaften in Klein- und Großgruppen und schaffen vertrauensbildende Selbstverständlichkeiten im Umgang miteinander. Sie entlasten damit das Individuum vor ständigem Entscheidungs- und Kontrollzwang. Ihre konkreten Ausformungen sind aber vom Menschen gemacht und müssen von ihm argumentativ verantwortet werden.