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Sind Menschenrechte heute noch universal begründbar?

Unter dem Eindruck der millionenfachen Opfer von Nationalsozialismus und Stalinismus und unter der Last der Erfahrung, dass menschenverachtende Diktaturen liberale Demokratien dauerhaft vernichten können, verabschiedeten am 10. Dezember 1948 die Vereinten Nationen ihre „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, in der sie die Mindeststandards des sozialen Zusammenlebens auf unserem Planeten formulierten. Die Nichtanerkennung und Verachtung von Menschenrechten führe, so die Charta, unweigerlich zu Akten der Barbarei, heute wie gestern. Achtundvierzig Staaten aller Kulturkreise stimmten der Erklärung zu, acht enthielten sich (darunter der Vatikan), Gegenstimmen gab es keine.

Viele Rechtssysteme aller Welt nahmen daraufhin die Grundgedanken der Bürger- und Menschenrechte in ihre Verfassungen auf, so auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949. Einige Zeit dachte man, Kontroversen um die Menschenrechte wären von nun an nur mehr eine Frage der Interpretation.

Der Teufel steckte allerdings schon damals im Detail. Uneinig war man sich nicht nur über die Frage, was man sich genau unter dem Begriff Menschenrechte vorzustellen hatte, sondern auch über Einklagbarkeit und Sanktionierung bei Missachtung. Immer mehr Staaten fanden genügend innenpolitische Gründe, sich um eine grundlegende Menschenrechtspolitik zu drücken. Die Folge waren Gründungen wie „Writers in Prison“, getragen von der Schriftstellerorganisation PEN im Jahr 1960, oder die der Gefangenenhilfsorganisation „amnesty international“ 1961. Später, 1978, folgte „Human Rights Watch“. Alle formulierten sie wenigstens den Minimalkonsens der Menschenrechts-Debatte: Keine Folter! Keine Todesstrafe! Keine politischen Gefangenen!

 

1. Menschenrechtspolitik in existentieller Krise

Heute, fast siebzig Jahre danach, erleben die Menschenrechte eine existentielle Krise. Wurden sie früher klammheimlich und mit einem gewissen Unrechtsbewusstsein gebrochen, werden sie heute von immer mehr Staaten, etwa von China und Russland, von arabischen und afrikanischen Ländern offen und demonstrativ abgelehnt, da sie nicht der eigenen, sondern – ihrer Ansicht nach – nur einer abendländischen, christlich geprägten Wertewelt entsprächen, aus deren Kulturraum sie entstammen. Während sich die globalisierte Welt in Hinblick auf Konsum- und Wirtschaftsverhalten erstaunlich annähert, gibt es in Wertefragen zunehmende Dissonanzen. Das Insistieren westlicher Staaten auf Einhaltung der Menschenrechte empfinden immer mehr Staaten als Werte-Kolonialismus. Zudem verweisen sie nicht ohne Grund darauf, dass auch einige westliche Staaten die Todesstrafe nicht abgeschafft oder grausame Behandlung von Gefangenen dulden oder gar fördern.

Der Menschenrechtsgedanke sieht sich zwei Gegnern gegenüber. Vertreter des Totalitarismus bestreiten grundsätzlich seine Verbindlichkeit. Vertreter des Relativismus bestreiten seinen universellen Anspruch und überlassen seine Einhaltung allenfalls jeweiliger Staatsraison. Die bittere Folge: Über die Universalität und Evidenz der Menschenrechte gibt es in der heutigen Staatengemeinschaft – auch im Westen! – de facto keine Einigkeit mehr. Die Menschenrechtslage ist weltweit heute bedrückender denn je, schwere Menschenrechtsverletzungen – Folter, Scheinhinrichtungen, Todesstrafe, Inhaftierung und Verschwindenlassen von Dissidenten und Minderheiten ohne Prozess – werden laut „amnesty international“ (Jahresbericht 2013) in mindestens 112 Ländern der Erde systematisch und offenkundig betrieben. Vor den Augen und ohne nennenswerte Reaktion der Weltöffentlichkeit! In zahlreichen asiatischen und afrikanischen Staaten hat die Missachtung der Menschenrechte z.B. durch drakonische Strafen und Folter zudem den Status eines Widerstands-Symbol gegen die Bevormundung durch den Westen erlangt. Aber auch im Westen selbst sind Teile der Menschenrechte nicht unumstritten, wie etwa die Todesstrafe in den USA zeigen.

Menschenrechtsgeschichte ist unlösbar mit Gewaltgeschichte verknüpft. Dass Staaten, die in den Händen von Verbrechern sind und denen es nur darauf ankommt, mafiöse Strukturen aufrechtzuerhalten, vor allem auf diese Gewalt setzen, liegt auf der Hand. Aber auch vordergründig zivilisierte Staaten beugen die Menschenrechte. Ihre Argumentation ist immer die gleiche: Im Interesse des Wohlergehens des gesamten Volkes muss in Kauf genommen werden, die Rechte von Einzelnen und Minderheiten zu beschneiden. Alle Diktaturen und ideologischen Systeme haben diese Position eingenommen. Bis in die Neuzeit hinein dachte man auch in Europa, dass eine funktionierende, der großen Mehrheit des Volkes nützliche Justiz nicht auskommen könne ohne Folter und grausame Hinrichtungen. Das moderne China meint, seine staatliche Einheit nur gewährleisten zu können, indem es Dissidenten verfolgt und bestimmte Volksgruppen in Lager sperrt. Und die Vereinigten Staaten von Amerika meinen, ihren Kampf gegen den Terrorismus nur mit den Mitteln der Todesstrafe und grausamer Behandlung in spezialisierten Gefangenenlagern führen zu können. Es zeigte sich freilich, dass die Stärkung einer kollektiven Identität durch Ausgrenzung von Minderheiten von geringer Dauer ist und immer neue Feindbilder benötigt, um virulent zu bleiben. Eine Spirale der Gewalt und des Schreckens ist die unausweichliche Folge.

 

2. Das historische Fundament wackelt: Glaube, Vernunft und Natur

Zuerst eher eine Theorie der Philosophen, wurde der Kampf um die Menschenrechte zunehmend zu einem Kernthema bürgerlicher Emanzipation. Während die Verfolgung praktischer Ziele zunächst durchaus erfolgreich war, haben sich die Vertreter selbst in einem homogen abendländischen Raum stets schwergetan, ein stringentes Fundament für ihr System der Menschrechte zu entwickeln. Ihre Begründungsmuster, basierend auf den Kernthemen europäischer Aufklärung des 17. Und 18. Jahrhunderts, standen im Grunde immer auf drei Säulen: Glaube, Vernunft und Natur. Säulen, deren Standfestigkeit ab dem 19. und 20. Jahrhundert zunehmend in Frage gestellt wurde.

 

Glaube

Für Menschen, die an eine irgendwie geartete metaphysische Gottheit glauben, war und ist die Sache am einfachsten. Sie halten sich gläubig an die Anweisungen ihres sich selbst offenbarenden Gottes, entweder im Sinne oder in Ablehnung individueller Menschenrechte. Eine Diskussion im eigentlichen Sinn kann es darüber kaum geben, allenfalls theologische Interpretationen. Dass die jüdisch-christliche Tradition, vor allem im radikalen Liebesgebot und im Hervorheben der menschlichen Personalität erheblich zum Entstehen der Menschenrechte beigetragen hat, ist offenkundig. Umso erstaunlicher, wie schwer sich z.B. die katholische Kirche mit ihrer Anerkennung, geschweige denn mit ihrer Anwendung in ihren eigenen Reihen tut.

Unstrittig ist, dass alle großen Weltreligionen Anteile an einem humanitären Blick auf den Menschen haben. Anteile, die aber immer wieder überlagert werden von fundamentalistischen und gewaltbereiten Interpretationen. Seit der Religionskritik bedeutender Philosophen wie Voltaire, Nietzsche oder Feuerbach, seit der rasanten Abwendung vieler Menschen von verfassten religiösen Bindungen, seit der Säkularisierung vieler staatlicher Verfassungen muss festgestellt werden, dass religiöse Argumente die Formulierung von Menschenrechten zwar unterstützen können, für eine alleinige Begründung aber nicht mehr ausreichen. Ob ein Vorstoß des Philosophen Hans Joas (geb. 1948) aus dem Jahr 2011, die Menschenrechte mit neuen Mitteln quasi-religiös zu fundamentieren, erfolgreich sein wird, bleibt abzuwarten. Er fordert eine neue „Sakralität der Person“, also die metaphysische Dogmatisierung der Menschenwürde. Er schreibt:
„Ich glaube nicht an die Möglichkeit einer rein rationalen Begründung letzter Werte. […] Zwingt uns der Abschied von der rationalen Letztbegründung aber wirklich zum Relativismus? […] Ich schlage vor, den Glauben an die Menschenrechte und die universale Menschenwürde als das Ergebnis eines spezifischen Sakralisierungsprozesses aufzufassen“.

 

Vernunft

Ausgehend von der zunehmenden Ablehnung religiöser Argumente ging die Tradition der europäischen Aufklärung und ihrer Philosophen dazu über, Bürger- und Menschenrechte allein mit den Argumenten der Vernunft zu begründen. Wurzelnd in Ansätzen der Antike und des Mittelalters lehrte z.B. Immanuel Kant, dass der Mensch kraft seiner Vernunft und seines Personseins das sittlich Gute „apriori“ (also ohne es „a posteriori“ in der Erfahrungswelt lernen zu müssen) in sich trage und erkennen könne. Der Mensch sei deswegen ein Wesen der ethischen Autonomie. Der Mensch könne anhand seiner Vernunft das Gute und Gerechte selbst erkennen und sei daher auch verpflichtet, sein Leben danach auszurichten.

Menschenrechte, so die Aufklärung, seien zwingende Voraussetzungen für die Selbstverwirklichung und Selbsterhaltung der menschlichen Gesellschaft (John Locke), sie seien Basis eines wechselseitigen Vertrags aus Vernunftgründen (Emanuel Kant) und ein Akt des Mitleids und der Solidarität mit den Schwächeren der Gesellschaft (Jean Jaques Rousseau). Die menschliche Ratio sei ein wichtiges Werkzeug zur Bildung von Selbsttranszendenz und zur Überwindung von Gruppenegoismen.

Spätestens seit Sigmund Freud Psychoanalyse wird allerdings auch die Autonomie der menschlichen Vernunft, zumindest in ihrer absoluten Form, stark in Frage gestellt hat. Der Mensch sei demnach nicht nur ein Wesen der Vernunft, sondern auch seiner Triebe und Affekte, seiner Emotionen und inneren Verwerfungen. Wie u.a. die shitstorms im Internet belegen, ist die Vernunft des Menschen nur eine dünne Schicht über einem brodelnden Kern aus Hass, Infamie und latenter Gewaltbereitschaft. Der Rekurs auf die Vernunft ist immer noch eine der stärksten Säulen des Menschenrechts-Gedanken, reicht für eine alleinige Begründung nicht mehr aus.

 

Natur

Seit Jahrhunderten spekuliert die Philosophie darüber, ob sich aus der Stellung des Menschen in Natur und Evolution Normen für sein soziales Zusammenleben erschließen lassen. Die Aufklärung ging von einer apriorischen (also nicht erst erlernten) Anlage des Menschen zu Solidarität, Rechtschaffenheit, Wahrheit, Gutem und Schönem aus, der das menschliche Handeln auch verpflichtet sei. Die Vernunft könne diese Normen zweifelsfrei erkennen und damit ein Gegengewicht zu den ebenfalls vorhandenen, aus der Evolution stammenden Trieben und Begierden schaffen. Diese Konzeption fand ihren Höhepunkt in der Philosophie der Aufklärung, z.B. durch Hobbes, Locke und Rousseau.

Viele Verfassungen, auch die der Bundesrepublik Deutschland, sind dieser Auffassung gefolgt und tragen naturrechtliche Züge. Ebenso die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ von 1948. Noch die Formulierung (wenn vielleicht auch nicht die Entstehung) des deutschen Grundgesetzes von 1949 ist stark theologisch und naturrechtlich geprägt. In seiner Präambel wird ausdrücklich auf die „Verantwortung vor Gott“ als dem universellen Gesetzgeber und auf die vorrechtliche, also naturrechtliche, „unantastbare Würde“ des Menschen Bezug genommen – und damit das Grund- und Menschenrecht erst begründet.
Kritiker werfen ein, dass die These der apriorischen Grundbeschaffenheit des Menschen letztlich eine quasi-theologische sei und beim Wegfall einer religiösen Weltsicht auch das Naturrecht in Frage gestellt sei. Tatsächlich bestehen heute hauptsächlich konservativ-katholische Denker wie Joseph Ratzinger (1927-2022) und Robert Spaemann (1927-2018) auf naturrechtliche Konzepte. Zweifelsfrei ist, dass eine stärkere Betrachtung des menschlichen Eingebundenseins in evolutive Zusammenhänge auch die Menschenrechtsdiskussion befruchten kann. Ein alleiniger Rekurs auf ein sogenanntes Naturrecht aber kann die Menschenrechte heute nicht mehr begründen. Die nochmals übergreifende philosophische Frage, ob es überhaupt universelle, vom Denken und Fühlen des Menschen unabhängige Ideen und Gesetzmäßigkeiten (Universalien) gibt, verschärft diese Debatte noch.

Ein interessantes Gedankenexperiment dazu: Nehmen wir an, ein gewaltiger Meteoriteneinschlag habe alles höhere Leben auf Erden vernichtet. Zurück blieben nur Einzeller, Mikroben und Viren, die sich – bei aller Primitivität – sofort wieder evolutionär weiterentwickelten. Würden sich daraus wieder höhere Rechtssysteme, Moralvorstellungen und Sozialstandards entwickeln? Eine spannende, wahrscheinlich für immer unlösbare Frage der Menschheit!

Ein erstes vorläufiges Fazit: Glaube, Vernunft und Natur, sie alle können dem Menschenrechts-Gedanken Beistand leisten, reichen aber allein – weder für sich gesehen, noch zusammen – für eine globale, interkulturelle Begründung nicht aus. Umso erstaunlicher, dass viele entsprechende Erklärungen, so auch das Grundgesetzt der Bundesrepublik Deutschland, allein auf diese drei Säulen Bezug nimmt.

 

3. Heutige Begründungsmuster von Menschenrechten

Altruismus und Solidarität

Die Kulturwissenschaften haben ziemlich eindeutig festgestellt, dass die evolutive Genese von Tier und Mensch, zwar auch auf Basis des sozialdarwinistischen „survival of the fittest“ (Überleben des Stärkeren), aber auch auf Basis des Altruismus und der Solidarität unter den Jagd- und Lebensgemeinschaften vorstatten ging. Weder Einzelne noch Stämme hätten überlebt, wenn allein das Faustrecht des Stärkeren das Zusammenleben geregelt hätte. Versöhnung und Empathie waren immer Teil der Überlebensstrategie einer Gruppe. Menschenrecht bedeutet, die gruppenspezifische Solidarität auf fremde Gruppen, ja auf die Menschheit insgesamt auszuweiten und evolutiv entstandene Formen der Xenophobie zurückzudrängen. Dieser Prozess der Wertegeneralisierung ist somit ein fundamentaler und unumkehrbarer Erkenntnisfortschritt der menschlichen Genese, der Kulturvierung und Humanisierung.

 

Gewalt- und Ohnmachtserfahrung

Nichts begründet die Menschenrechte überzeugender als die Erfahrung, dass ihre Missachtung zu jeder Zeit zu Faustrecht, Barbarei, Diktatur und Zerstörung geführt hat. Nichts deutet darauf hin, dass das in Zukunft anders sein sollte. Wer dies leugnet, ist entweder zynisch oder ein Kriegsgewinnler des Faustrechts. Hannah Arendt (1906-1975) hat aus ihren Erfahrungen mit den Nationalsozialisten, aber auch mit den Stalinisten klar formuliert: Jede totalitäre Form der Herrschaft setzt sofort die Menschenrechte außer Kraft. Es dürfe daher nicht im Befinden einzelner Staaten liegen, Menschenrechte zuzulassen oder nicht. Sie sind vorstaatlich. Sie sind vorstaatliche Rechte und gehen staatlichen Gesetzen voraus.

 

Diskurs- und Gesellschaftsvertrag

Nach Jürgen Habermas (geb. 1929) und John Rawls (1921-2002) sind Menschenrechte Produkt eines jahrhundertelang sich entfaltenden Diskurs- und Gesellschaftsvertrags, der zwar menschengemacht, deshalb aber nicht beliebig rückholbar ist. Die Vernunft des Einzelnen allein reiche nicht aus, menschheitsgeschichtliche Werte zu schaffen, wohl aber der Diskurs vieler und vieler Generationen.

Menschenrechte sind Teil einer politischen Selbstverpflichtung von Staaten. Diese verpflichten sich gegenseitig auf Einhaltung. Der Staat verzichtet damit auf seine absolute Souveränität, denn absolutistische Staaten werden transnationalen Menschenrechten niemals zustimmen. Zivilisierte Staaten lassen sich auf dieses „transzendentale Tauschgeschäft“, wie es der Philosoph Otfried Höffe (geb. 1943), nennt, ein. Sie verlieren einen Teil ihrer absoluten Gewalt, gewinnen aber die Solidarität und Achtung ihrer Bevölkerung und anderer Staaten.

 

Evidenz und Empathie

In der Philosophie gibt es den Begriff der Evidenz. Evident ist eine Tatsache dann, wenn sie einen unmittelbaren und unbezweifelbaren Wahrheitsanspruch besitzt, der nicht mehr lange theoretisch diskutiert werden muss. Nach den Erfahrungen von Holocaust und KZ-Terror hielt man Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und andere Menschenrechte für evident, subjektive Rechte, die jedem Menschen allein aufgrund seines Menschseins zustünden. Ohnmachts- und Gewalterfahrung der Menschheit haben zu einem generationenübergreifenden Reflexions- und Kommunikationsprozess geführt, der sich immer mehr der Formulierung der Menschenrechte genähert hat. Nichts ist universeller und unleugbarer als der Schmerz, nichts prägender als die existentielle Angst vor Folter, Todesstrafe und grausamer Bestrafung. Dieser Ansatz ist nicht postkolonial, sondern universell. Aus Leiden allein entsteht noch kein Wertebewusstsein, es muss ein Hoffnungsprozess hinzukommen, die Spirale aus Gewalt zu durchbrechen. Irritierend bleibt, dass heute nicht selten den Tätern mehr Empathie und Aufmerksamkeit entgegengerbacht wird als den Opfern.

Ein zweites, vorläufiges Fazit: Vielleicht muss man derzeit auf eine philosophische Letztbegründung der Menschenrechte verzichten. Es gibt aber eine überzeugende Reihe von kumulativen Argumenten für sie. Menschenrechte werden nicht das Paradies auf Erden schaffen, aber mithelfen, das Schlimmste, was Menschen als Täter anrichten können, zu verhindern. Oder anders ausgedrückt: Die weltweite Erfahrung hat gezeigt, dass Menschen in Staaten, die sich menschenrechtlichen Standards verpflichtet fühlen, friedlicher, sozial entspannter, wirtschaftlich und kulturell kreativer leben. Und dass sie weniger Aggressionspotential für ihre Nachbarn darstellen.

 

4. Von welchen Menschenrechten reden wir?

Wenn die Menschenrechtsdiskussion im Kern unumkehrbar, im Detail aber historisch geformt ist, ist es nicht verwunderlich, dass die Ausgestaltung ihres Kanons wandelbar und im Fluss ist. Nach heutigem Stand stellt sich der Grundwertekatalog wie folgt dar: Die zentralen Forderungen der großen Menschenrechts-Organisationen lauten: Keine Folter, keine Todesstrafe, keine Gefangenschaft aus politischen, religiösen oder ethnischen Gründen.

Die Allgemeine Erklärung von 1948 listet des Weiteren auf: Verbot der Sklaverei, Gleichheit vor dem Gesetz, Anspruch auf Rechtsschutz, Schutz vor ungerechtfertigter Ausweisung, Anspruch auf ein faires Gerichtsverfahren, Freizügigkeit und Recht auf Auswanderung, Recht auf Staatszugehörigkeit und Asyl, Recht auf Ehe und Familie, Gedankens-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Meinungs- und Informationsfreiheut, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, allgemeines und gleiches Wahlrecht, Recht auf Soziale Sicherheit, Recht auf Arbeit und gleichen Lohn, Recht auf Erholung und Freizeit, Recht auf Wohlfahrt und Bildung, Freiheit des Kulturlebens, Schutz der soziales und internationalen Ordnung. Abschließend betont die Erklärung auch die Pflichten des Einzelnen zum Glücken von Staat und Gesellschaft.
Forderungen, diese Liste auszuweiten, hat es immer gegeben. So mahnen Entwicklungs- und Schwellenländer seit Jahren, den freien Zugang zu Ressourcen und Märkten in den Grundwertekatalog aufzunehmen. Manche Verfassungen betonen ein Recht auf Heimat, andere wiederum nicht. Die Minimalisten in der Menschenrechts-Debatte mahnen, die Liste kurz und prägnant zu halten, damit sich möglichst viele Kulturen der Welt daran beteiligen können. Die Maximalisten mahnen, keine bisher erreichten Formulierungen preiszugeben, sondern eher auf Ausweitung des Kanons zu drängen.

 

4. Vorschläge für einen prospektiven Menschenrechts-Dialog

Prozesshaft, aber nicht beliebig

Auch im Abendland ist die Formulierung von Menschenrechten in einem langen Prozess und in kontroversen Gesprächen entstanden. Dieser Dialog muss heute weltweit und interkulturell weitergeführt werden. Diese Vorläufigkeit und Abkehr vom Systemdenken darf nicht als Beliebigkeit oder gar als Legitimation für Gräueltaten missbraucht werden. Vielleicht muss man dabei auf philosophische Letztbegründungen verzichten, um doch zu pragmatisch verpflichtenden, gemeinsamen Ergebnissen zu kommen.

 

Multikulturell

Dialogversuche mit den Machthabern von Verbrecherstaaten, denen es nur darum geht die Pfründe ihrer Junta, ihrer Partei, ihrer Nomenklatura zu sichern, sind sinnlos. Das darf aber nicht davon abhalten, das philosophisch-politische Gespräch mit all jenen zu führen, denen das Wohlergehen ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger am Herzen liegt, auch wenn diese die bisherigen Begründungsmuster individueller Grundrechte nicht teilen. Mehr als bisher muss dargestellt werden, dass der Grundbestand der Menschenrechte eine Lernerfahrung der Menschheit, nicht einzelner Kulturen ist. In allen Kulturen und Religionen gibt es anschlussfähige Argumente für die Menschenrechte. Dass dieser Dialog nicht zwingend nur mit den politisch Mächtigen, sondern vor allem auch mit den geistigen und künstlerischen Eliten, den Bürgerrechtlern und Reformbewegungen der jeweiligen Länder geführt werden muss, liegt auf der Hand.

 

Kritisch, selbstkritisch und vorbildhaft

Dialog bedeutet Selbstkritik auf Gegenseitigkeit. Asiatische, arabische und afrikanische Gesellschaften werden nicht umhinkönnen, sich mehr den Individualrechten ihrer Bürgerinnen und Bürger zu öffnen. Im Gegenzug muss der Westen seinen Wertekanon mehr an den Bezugspunkten Gemeinschaftspflicht und Solidarität ausrichten. Gleichzeitig ist das gute eigene Beispiel die beste Werbung für eine Überzeugung. Theoretische Argumente werden kaum fruchten, wenn der Staat des Verhandlungsführers die geforderten Standards nicht einhält.

 

Ideologiekritisch

Dekadente Positionen, die einen Menschenrechtsdialog mit dem Hinweis verweigern, er könne lohnende Geschäfte, ergiebige Märkte und billigen Konsum gefährden, sind zu entlarven und zurückzuweisen. Ebenso kritisch zu hinterfragen sind alle Erklärungsversuche, staatliche Einheit und Sicherheit sei nur mithilfe von Gewalt, Terror und Abschaffung der Menschenrechte zu bewerkstelligen. In aller Regel erweisen sich diese Argumente als notdürftige Verbrämungen von Machterhaltungs-Monopolen von Einzel-Egoismen. Menschenrechtspolitik, die sich dagegen wendet, ist angewandte Ideologiekritik in jeglicher Richtung.

 

Reduziert auf das Wesentliche

Nicht jeder wünschenswerte zivilisatorische Fortschritt muss schon den Status eines universalen Menschenrechts erhalten. Ein aufgeblähter Menschenrechtskatalog wird schwerlich weltweite Akzeptanz erlangen.

 

Fordernd und verstörend

Menschenrechtsgeschichte ist Blutgeschichte. Wer die bitter erkämpften Positionen unserer Vorfahren bei aller Dialogbereitschaft leichtfertig auf´s Spiel setzt, nutzt niemandem. Wer die Büchse der Pandora öffnet, wird selbst Opfer ihrer giftigen Dämpfe. Die Frage, welche Positionen verhandelbar sind und welche nicht, erfordert einen hohen philosophischen und diplomatischen Kraftaufwand beider Seiten. Er rührt an die jahrhundertelange Frage, ob es apriorisch gute und schlechte Taten des Menschen gibt (deontologische Position) oder ob seine Taten nur nach seinen Wirkungen beurteilt werden sollen (konsequentialistische Position). Früher wurde dieses Gegensatzpaar Tugendethik und Gesinnungsethik genannt. Vermutlich müssen gute Mittelwege gesucht, bzw. geklärt werden, in welchen Menschenrechtsfragen es Verhandlungsspielraum gibt und in welchen nicht. Ein unkritisches „Der Zweck heiligt die Mittel“ kann jedenfalls keine Option sein. Es gibt Menschenrechtsverletzungen, die unter allen denkbaren Umständen und auch in allen Kulturen dieser Welt verwerflich, empörend und – wenn irgend möglich – justitiabel sind. Bei allem Dialog, absoluter Relativismus ist und bleibt menschenverachtend. Nur ausgesprochene Zyniker werden Menschenrechtsopfern und ihren Angehörigen ein relativierendes Erklärungsmuster ihres Leidens vermitteln wollen.

 

Juristisch bindend und sanktionsfähig

Auch wenn Menschenrechte Rechte sind, die dem positiven Recht der Staaten vorausgehen, müssen sie doch Eingang in deren Verfassungen finden und juristisch überprüfbar sein. Alle Menschen müssen die Möglichkeit erhalten, nationale und internationale Gerichte anzurufen, um ihre Rechte einzuklagen. Inwieweit im bi- bzw. multilateralen Verhältnis der Staaten wirtschaftliche, politische und militärische Sanktionen im Sinne einer ultimo ratio sinnvoll sind, gehört zu den schweren Entscheidungen internationalen Diplomatie, darf aber nicht vor vorne herein ausgeschlossen werden.

 

Ein drittes, vorläufiges Fazit: In dem Maß, in dem (westliche) theologische, rationale und naturrechtliche Argumente immer geringere weltweite Akzeptanz finden, plädiert der Autor für eine neue Basis der Menschenrechte: Ein Argumentationsbündel aus interkulturellen menschlichen Erfahrungen und Lernprozessen. Wertbewusstsein erwächst aus Erfahrung. Ohnmachts- und Gewalterfahrung der Menschheit haben zu einem generationenübergreifenden Reflexions- und Kommunikationsprozess geführt, der sich immer mehr der Formulierung der Menschenrechte genähert hat. Nichts ist universeller und unleugbarer als der Schmerz, nichts prägender als die existentielle Angst vor Folter, Todesstrafe und grausamer Bestrafung. Dieser Ansatz ist nicht postkolonial, sondern ein universell humaner Begründungsansatz. Unter diesem Aspekt ergibt sich die abschließende Hoffnung:

Nicht universell aber universalierbar! Eine Universalität der Menschenrechte ist heute nicht mehr vorauszusetzen, eine Universabilisierbarkeit durch interkulturellen Dialog aber durchaus möglich. Und dieser ist dringender denn je!

 

Literaturhinweise

Reinald Eichholz: Gerechtigkeit, Menschenwürde und die Rechte der Natur. Basel 2022
Julian Nida-Rümelin: Humanistische Reflexionen. Berlin, 2016
Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Berlin 2011
Christoph Menke/ Arnd Pollmann: Philosophie der Menschenrechte. Eine Einführung. Hamburg 2007

 

Editorische Notiz zu den „Gedanken aus Dachau“

Solange es eine zivilisierte Menschheit gibt, wird der Name „Dachau“ mit seinem 1933 bis 1945 von den Nationalsozialisten betriebenen Konzentrationslager im kollektiven Gedächtnis als Symbol der Menschenverachtung belegt bleiben. Das Bemühen vieler, die Stadt heute als Lernort gegen totalitäre Gewalt zu etablieren, verdient allen Respekt und jegliche Unterstützung. Neben einer akribischen Geschichtsaufarbeitung sollten von solch einem Lernort auch Impulse der gegenwärtigen Menschenrechts- und Demokratiedebatte ausgehen. Für dieses Anliegen möchte die vorliegende Reihe „Gedanken aus Dachau“ einen kleinen Beitrag leisten. Die Texte von Norbert Göttler verstehen sich als komprimierte Arbeits- und Argumentationshilfen sowie als Inspiration zum Weiterdenken.

Dr. phil. Norbert Göttler, 1959 in Dachau geboren, studierte in München Philosophie, Theologie und Geschichte. 1988 wurde er im Fach Sozial- und Wirtschaftsgeschichte promoviert. Er arbeitet als Publizist, Fernsehregisseur und Schriftsteller. Göttler ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums und Vize-Dekan an der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Von 2011 bis 2023 war er Bezirksheimatpfleger von Oberbayern. 2004 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.