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Gastbeitrag: Johano Strasser – Die Mühen der Ebene

Ich bin ein gelernter Reformist, nicht ein geborener. Als Heranwachsender habe ich zuweilen davon geträumt, alle Ungerechtigkeit, alle Unterdrückung mit einem Schlag von der Erde zu tilgen. Wenn es nicht anders geht, dann eben auch mit Gewalt, wobei mir allerdings nicht bewusst war, was Gewalt wirklich bedeutete. Welchen Grund, so fragte ich mich, kann es geben, gegenüber dem offensichtlich Schlechten Nachsicht zu üben, Geduld aufzubringen, während das Unrecht erkennbar weiter seinen Lauf nimmt? Auch heute noch tue ich mir oft schwer mit Kompromissen. Wenn es ums Grundsätzliche geht, werde ich leicht ungeduldig, wenn längst fällige Reformen hinausgezögert werden, wenn Mal um Mal die Dummheit und das Unrecht triumphieren und die Bestrafung der Ungerechten und Hochmütigen wieder einmal auf sich warten lässt.

Unerschütterliche Kontenance ist etwas für die Satten und Zufriedenen, für die, denen die Welt, wie sie ist, als nicht verbesserungsbedürftig, vielleicht sogar nicht einmal verbesserbar erscheint. Aber: „Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert“, ließ Lessing die Gräfin Orsini in Amelia Galotti sagen, „der hat keinen zu verlieren.“ Mit diesem Satz hätte ich meine revolutionäre Ungeduld vielleicht rechtfertigen können. Aber Lessing ist vor weit über zweihundert Jahren in Braunschweig gestorben und daher als Gewährsmann heute kaum noch zu gebrauchen.

Also musste ich mir selbst helfen. Als ich mich in der Geschichte umsah, entdeckte ich mit Schrecken, dass meine revolutionäre Ungeduld sich ganz ähnlich rechtfertigte wie der mörderische Verfolgungswahn der Inquisition und aller anderen Spielarten religiösen Eiferertums. Hatte nicht schon Augustinus Intoleranz und Verfolgung aus dem Gebot der Nächstenliebe abgeleitet? „Denn wenn jemand sähe, wie sein Feind, durch ein gefährliches Fieber wahnsinnig geworden, dem Abgrund zuliefe, würde er da nicht Böses mit Bösem vergelten, wenn er ihn so laufen ließe, statt ihn zurückzuhalten und binden zu lassen?“ (Augustinus, Briefe, Nr. 93,2) „Väterliche Fürsorge“ sei es, so die Organisatoren der Heiligen Inquisition, und „heilende Liebe“ der Mutter Kirche, wenn sie Abtrünnige foltern ließen, um sie zur Umkehr zu bewegen. Denn das ewige Leben, das diese als reuige Sünder vielleicht noch erlangen könnten, sei doch unendlich wertvoller als alles andere. Augustinus‘ Lehre vom „guten Zwang“, der sich durch die gute Sache, der er dient, rechtfertigt, war auch dem Klosterschüler Stalin geläufig. Und die Denkfigur dient heute auch den iranischen Mulllahs zur Rechtfertigung ihres grausamen Regimes.

Es gibt keine an sich und unter allen Umständen gute Sache, die in der Not auch grausame Folter und Mord rechtfertigt. Der Zweck, und sei er noch so edel, rechtfertigt nicht jedes Mittel. Es gibt etwas, das der Mittel-Zweck-Logik entzogen ist: das Leben, die Menschen und ihre Würde. Die Menschenwürde darf unter keinen Umständen angetastet werden, sie zu achten ist die Pflicht jedes Mitglieds der Gesellschaft, sie zu schützen, ist die oberste Raison jeder legitimen Staatsgewalt. Auch Demokratien können Verrat an ihren eigenen Basisüberzeugungen begehen. Darum braucht es einen Rechtsstaat, der mit unabhängigen Richtern dafür sorgt, dass das Gewaltmonopol des Staates nicht missbraucht werden kann. Folter und Mord sind auch dann illegitim, wenn sie von demokratisch gewählten Präsidenten angeordnet oder geduldet werden.

Aber was machen wir, wenn finstere Diktatoren und bigotte Sittenwächter, wenn geschniegelte Ausbeuter mit einem Federstrich Tausende von Menschen ins Elend stürzen? Müssen wir sie walten lassen, wenn wir, um sie zu stoppen, kein Gericht finden, dass sie verurteilt und keine Macht, die das Urteil durchsetzt? Das altehrwürdige monarchomachische Argument lautet: Der Tyrannenmord ist legitim. Wenn alle anderen Mittel versagen, ist es gerechtfertigt, Gewalt bis hin zum Tyrannenmord anzuwenden. Es gibt heute eine ganze Reihe von Staaten, in denen diese Schlussfolgerung berechtigt erscheint. Gilt sie auch, könnten wir uns fragen, gegenüber jenen internationalen Bankern und Großkonzernen, die Tausende von Existenzen ruinieren, um weiter ungerührt Milliardengewinne zu scheffeln? Wird Duldung hier nicht zur Komplizenschaft mit dem Verbrechen?

Der Tyrannenmord ist nur dann legitim, wenn die Tyrannei mit anderen Mitteln nicht überwunden werden kann, auch dann, wenn der Tyrann in demokratischen Wahlen an die Macht gelangt. Damit es erst gar nicht zu einem solchen Suizid der Demokratie kommt und sich eine Tyrannei in einem demokratischen Verfahren etablieren kann, muss die Demokratie wehrhaft sein. Der Rechtsstaat der Bundesrepublik regelt dies im Artikel 18 des Grundgesetzes, wo es heißt: „Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit, die Lehrfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit, das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, das Eigentum oder das Asylrecht zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt diese Grundrechte.“ Wenn also wichtige Exponenten einer Partei wie der AfD sich nachweislich gegen einige oder alle der hier genannten Freiheitsrechte aussprechen, ist es dann nicht die Pflicht des Rechtstaats, diese daran zu hindern, an wichtige Machtpositionen im Staat zu gelangen? Als das probate Mittel in solchen Fällen bietet es sich an, den betroffenen Personen in einem rechtsstaatlichen Verfahren das passive Wahlrecht abzusprechen.

Von Natur aus, denke ich manchmal, ist der Engagierte ein Revolutionär, jedenfalls ist er ungeduldig und, wenn er anders seine Sache nicht meint befördern zu können, manchmal auch gewalttätig. Iin einer rechtsstaatlich verfassten Demokratie verfügt er aber zumeist über friedliche Mittel, um seine Ziele zu befördern. Dass nicht alles auf einmal zu haben ist, dass man Kompromisse machen, sich zumeist mit kleinen Schritten begnügen, zuweilen Rückschritte hinnehmen muss, das lernt man erst, wenn man sich ans Veränderungswerk begibt, wenn zur Empörung über das Unrecht die Erfahrung des eigenen Scheiterns, wenn zum zielgerichteten Handeln die Einsicht in die Dialektik geschichtlicher Prozesse und die prinzipielle Begrenztheit des eigenen Wissens hinzutritt. Und wenn man sich der Tatsache stellt, dass zuweilen auch in bester Absicht Unheil über die Menschen gebracht wird. Wenn man Glück hat, lernt man auch, dass der eigene revolutionäre Eifer, der Kampf gegen Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit allzu leicht neue Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit erzeugt und dass auch deswegen Umsicht und Vorsicht angebracht sind.

Wer nicht zu moralischer Empörung fähig ist, ist ein halber Mensch. Aber wer sich nur von seiner Empörung leiten lässt, wen der gerechte Zorn allzu leicht zur hemmungslosen Wut auswächst, kann leicht zum Unmenschen werden. Kleists Kohlhaas wollte sein gutes Recht mit allen Mitteln durchsetzen. Dabei ging es ihm wohl nicht nur, nehmen wir zu seinen Gunsten einmal an, um sein Recht, sondern um Gerechtigkeit überhaupt. Aber auch im Namen einer guten Sache, im Namen von Freiheit und Gerechtigkeit, werden zuweilen schreckliche Irrtümer und Ungerechtigkeiten begangen. Hegel sprach von den blutigen Stiefeln, mit denen der Fortschritt sich seinen Weg durch die Geschichte bahne, die Bolschewiki glaubten ihre Verbrechen mit der Formel von den Übergangsproblemen rechtfertigen zu können und wir im Westen verweisen, wenn wir gegen unsere eigenen hehren Grundsätze verstoßen, im juristischen Neusprech gern auf Kollateralschäden. Aber spricht uns das von unserer Verantwortung frei?

Wer sich damit nicht abfinden mag, dass die Verhältnisse sind, wie sie sind, muss nicht resignieren. Aber er muss sich darauf einstellen, dass es den einen schnurgeraden Weg zum Besseren nicht gibt. Er wird Umwege machen, wird sich immer mal wieder mit Halbheiten abfinden müssen, weil mehr eben nicht zu erreichen ist. Er sollte bei allem, was er in Angriff nimmt, mit dem Eigensinn der Menschen, rechnen, mit der Vertracktheit menschlicher Verhältnisse, für die die Engländer in der viktorianischen Epoche, den schönen Begriff der „cussendness of the matter“, der Verfluchtheit der Materie benutzten. Und wichtiger noch: Er sollte seine eigene Fehlbarkeit ernst nehmen.

Politische Veränderungen, ob als Reformen oder als Revolutionen, sind so gut wie nie geradlinige Handlungen, bei denen die richtigen Mittel in kurzen Fristen die berechneten Ergebnisse erzeugen. Die Revolutionäre, die sich so gern über die Halbherzigkeit der Reformer lustig machen, sind im Prinzip nicht besser dran als diese. Eine Gesellschaft oder ein gesellschaftliches Teilsystem zu verändern, möglichst zu verbessern, heißt in komplexe Lebens- und Wirkungszusammenhänge einzugreifen, mit eigensinnigen Menschen und der eigenen Irrtumsanfälligkeit umgehen zu müssen. Es heißt auch, Fehler zu machen und aus Fehlern zu lernen, beharrlich zu sein und, wenn nötig, die eigenen Ziele korrigieren zu müssen. Und bei all dem muss man den Spott derer ertragen lernen, die sich nicht am Veränderungswerk beteiligen wollen, weil das ja angeblich doch nichts bringt. Wer Reformen durchsetzen will, darf den Menschen nicht zu viel auf einmal zumuten. Lernen braucht Zeit. Der Mythos vom abrupten Bewusstseinswandel in der revolutionären Situation trägt nicht weit.

Es ist ein gängiges Vorurteil, dass zu sozialem und politischem Engagement neben festen und unverrückbaren Überzeugungen, auch ein über allen Zweifel erhabenes Wissen über die Verfassung der Welt und über die Mittel, diese zu verändern, gehören. Nicht selten gelten Engagierte sogar als Dogmatiker, die sich auf Gedeih und Verderb einer Ideologie, einer Heilslehre, einer Partei anschließen. In der Tat gehören wirkliche Reformer nicht zu den Lauen, die der Herr aus seinem Munde ausspeit, wie es in der Offenbarung des Johannes (3,16) heißt. Gleichmut und Gleichgültigkeit gegenüber der Ignoranz anderer kann man von ihnen nicht erwarten. Wenn sie es mit einer Mehrheit zu tun haben, die partout nicht begreifen will, dass wir drauf und dran sind, die Zukunft des Menschen auf unserem verletzlichen Planeten zu verspielen, sollte es uns nicht überraschen, dass engagierte junge Menschen dann und wann zu Mitteln greifen, um ihr Anliegen durchzusetzen, die, streng genommen, nicht legal sind, dass sie, um auf ihr berechtigtes Anliegen hinzuweisen, Dinge tun, die anerkannte Regeln und Gesetze verletzen? Ziviler Ungehorsam dieser Art ist in Demokratien häufig dann anzutreffen, wenn ein dramatischer Bewusstseinswandel in der Gesellschaft ansteht, auf den die Mehrheit der Bevölkerung und die politisch Verantwortlichen nicht angemessen reagieren.

Der demokratische Rechtsstaat sollte auf diesen zivilen Ungehorsam nicht vorschnell mit der Kriminalisierung der Aktivisten reagieren, weil die Erfahrung lehrt, dass die sich hierin äußernde revolutionäre Ungeduld für die Demokratie notwendige Reformprozesse vorantreiben kann. Auf der anderen Seite sollten die Wiederständigen nie vergessen, dass auch sie bloß Menschen sind, denen letzte Gewissheiten nicht zur Verfügung stehen und dass auch mit den allerbesten Absichten Unrecht und Unheil befördert werden kann. Wer die Welt verändern will, muss nicht nur andere Menschen, sondern auch sich selbst immer wieder neu von der Notwendigkeit der Veränderung und der Angemessenheit der zu wählenden Mittel überzeugen.

Es kann nicht schaden, wenn Reformer Charisma haben. Aber noch wichtiger ist, dass sie immer, auch in Phasen, in denen das Reformwerk Fortschritte macht, skeptisch bleiben, bezüglich der Reichweite des eigenen Blicks und der eigenen Handlungsmöglichkeiten. Aber Skeptiker sind keineswegs notwendig lau, weder warm noch kalt, ohne Anteilnahme, fischblütig. Skeptisch bleiben, ohne altklug oder zynisch zu werden, ist möglich. Skeptiker können ironisch die eigene Position in Frage stellen, ohne über den existentiellen Ernst der condition humaine hinweg zu witzeln. Sie sollten den Zweifel zulassen, aber sich von ihm nicht beherrschen lassen. Sie sollten die Mühen der Ebene als ihre Sache akzeptieren, sich aber von ihrer Aufgabe nicht zermürben lassen. Sie sollten tun, was sie meinen tun zu müssen, aber darüber nicht vergessen die Momente des Glücks, die sich auch ihnen bieten, zu genießen. Als vergrätzte Misanthropen dienen sie weder sich noch anderen. Um es mit Albert Camus zu sagen: „Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen.“

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Prof. Dr. Johano Strasser, Jahrgang 1939, Politologe, Publizist und Schriftsteller. Ehemaliger Präsident des deutschen PEN-Zentrums. Mitglied der SPD-Grundwertekommission.