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Werte und Normen

„Unsere Werte“ – gibt es die eigentlich? Sind wir uns über den Gehalt „unserer Werte“ so einig? Wenn ja, warum dann das ständige Ringen der Philosophie um dieses Thema (z.B. Max Schelers „Werteethik“), warum pausenlose Konferenzen von „Grundwertekommissionen“, warum das aufgeregte Lamentieren über „Werteverfall“ und „Werteverlust“ innerhalb der westlichen Industriegesellschaften? Zumindest schadet es nicht, ein wenig nachzudenken über ein Wort, das leicht (allzu leicht?) von den Lippen geht, aber doch so schwer zu fassen ist!

Der Begriff „Wert“ kommt zunächst aus der Ökonomie und bedeutet einfach „was eine Sache Wert ist, was sie kostet“. Als der Begriff im 19. Jahrhundert auf abstrakte, ja, ethische Sachverhalte übertragen wurde, begannen die Schwierigkeiten. „Wert“ ist zunächst ein vollkommener Leerbegriff und muss immer erst inhaltlich aufgefüllt werden. Werte verändern sich, schnell stellte sich heraus, dass verschiedene Gruppen und Individuen auch unterschiedliche Dinge „wertschätzen“.

Mit der Entstehung moderner Staaten begann ein Prozess, sich wenigstens auf gemeinsame Grundwerte zu einigen. Werte sind – so die heute einschlägigen Lexika – Handlungsmuster, die eine bestimmte soziale Gruppe für sich als sinn- und identitätsstiftend ansieht und entsprechend fördert. Bilden sie eine geschlossene Einheit, spricht man von Wertesystem oder Werteordnung. Erhebt ein Wertesystem den alleinigen Anspruch auf absolute Wahrheit, verhält sich korrektur- und erfahrungsresistent, so sind die Merkmale einer Ideologie gegeben.

Für eine pluralistische Wertegesellschaft ist es kennzeichnend, dass sich über bestimmte Grundfragen der Lebensführung nur mehr schwer Konsens erzielen lässt. Es ist Sache der politischen Reife einer Gesellschaft, ob sie eine belastbare Balance zwischen den in den Verfassungen grundgelegten allgemeinen Werten und den individuellen Werten ihrer Teilgruppen findet.

Im Alltag stellt sich schnell heraus: Wert ist nicht gleich Wert! Der Wert der Bewegungsfreiheit eines Autofahrers oder Radfahrers muss sich an einer Straßenkreuzung temporär dem Wert einer geregelten Ampelschaltung unterordnen.

Das banale Beispiel zeigt: Nicht jeder Wert kann zum gleichen Zeitpunkt den gleichen Grad an Autorität beanspruchen, konkurrierende Werte können in ihrem Rang zeitweise oder dauerhaft unter- oder übergeordnet sein. Zurecht spricht man dann von einer „Hierarchie der Werte“. Werte können sich innerhalb einer solchen Hierarchie auch widersprechen, dann tritt ein „Wertekonflikt“ auf. So kann zum Beispiel der Wert des Wohlstands mit dem der Nachhaltigkeit in Konflikt treten. Monokultur in der Landwirtschaft steigert zweifellos den kurzfristigen Wohlstand des Unternehmers, schadet aber der ökologischen Gesundheit eine Region. Oder: Unangetastete Landschaft ist zweifelsfrei ein hoher Wert, im Sinn der Energiewende kann aber ein Windkraftwerk einen höheren Wert darstellen.

Klassische Wertekonflikte, die den Einzelnen, aber auch den Gesetzgeber zwingen, Güterabwägungen in ihrem Handeln vorzunehmen. Sie müssen entscheiden, ob sie den Erfordernissen der Situation Rechnung tragen oder eher ihrem prinzipiellen Werteverständnis. Diesen Umstand hat der Soziologe Max Weber durch seine Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik anschaulich gemacht. Gesinnungsethisch handelt ein Mensch, wenn er sein Handeln absolut nach seinen subjektiven Wertvorstellungen ausrichtet, ohne auf eventuelle problematische Handlungsfolgen zu achten. Heute wird eine solche Haltung „deontologisch“ (gr. Deón, die Pflicht) genannt. Oft genanntes Beispiel sind die Zeugen Jehovas, die Bluttransfusionen ablehnen, auch wenn das Leben von Betroffenen damit gefährdet wird. Verantwortungsethisch handelt ein Mensch, wenn er seine Prinzipien auch von möglichen Folgewirkungen abhängig macht und Handlungsalternativen im Sinn des geringeren Übels seines Tuns reflektiert. Moderne Ethik bezeichnet eine solche Haltung als „konsequentialistisch“.

 

Werte, Normen und Kulturbildung

Wertentscheidungen und Kulturbildung bedingen einander gegenseitig. Gesellschaften, die z.B. mehrheitlich an religiösen Werten festhalten, werden andere Bräuche und Sitten, Literaturen und Architekturen, Künste und Philosophien hervorbringen, als säkularisierte Staaten. Werte sind konstitutiv für die Entstehung von Kultur, andererseits werden Werte über Kultur gefördert, vermittelt, eventuell verändert und weitergegeben. Dies gilt für ideelle Werte, aber auch für materielle Werte. Ideelle Werte sind Werte, die nicht primär einer materiellen Gewinnvermehrung dienen, sondern der Steigerung der geistigen und sozialen Lebensqualität des Einzelnen und der Gruppe.

Wenn Menschen eher an der Erhaltung traditioneller Werte festhalten, nennt man sie (nach einem von Erhard Eppler 1975 geprägten Begriff) „wertekonservativ“, wenn es ihnen eher um den Erhalt von Machtpositionen geht „strukturkonservativ“. Aus Werten (z.B. der Achtung des Eigentums) lassen sich konkrete soziale Normen ableiten (z.B. das Verbot von Plagiaten).

Werte haben in der Regel attraktiven (einladenden), Normen restriktiven (verbietenden) Charakter. „Fördere deine künstlerische Kreativität!“ wäre ein wertbesetzter Anspruch. „Beschmiere nicht fremde Wände mit deinen Werken!“ das normbesetzte Pendant dazu.

Staat und Gesellschaft dürfen sehr wohl wünschenswerte Werte formulieren, ohne jeden einzelnen mit einem Verpflichtungscharakter zu versehen, also sanktionierbare Normen daraus machen.

Nicht selten hat der Einzelne andere Werte-Prioritäten als die Gesamtgesellschaft. Dann liegt es an der Gesellschaft zu entscheiden, mit welchen Sanktionen sie ihr wertebasiertes Normsystem durchsetzen will. Zu schwache Sanktionen führen zur gesellschaftlichen Indifferenz, zu radikale zur Einschränkung von Freiheitsrechten des Einzelnen. Wie so oft, gilt es, eine Weisheit des Maßes zu entwickeln.

 

Wertewandel oder Werteverfall?

Werte werden innerhalb einer sozialen Gruppe von Generation zu Generation weitergegeben, dabei aber verändert, z.B., weil sich Umweltbedingungen ändern oder Konflikte zwischen den Generationen bestehen. Dass sich Werte innerhalb einer Gesellschaft wandeln ist kein neues Phänomen, sondern eine Grundkonstante menschlicher Entwicklung. So kritisierte man schon in früheren Jahrhunderten überkommene Werte wie bestimmte Feiertagsheiligungen, Nahrungstabus oder Kleiderregelungen, und trennte sich von ihnen. Auch die Abkehr vom Vergeltungsprinzip bei Körperverletzungen („Aug um Aug, Zahn und Zahn“) kann in diesem Zusammenhang genannt werden. Während solche Prozesse in früheren Jahrhunderten langsam vonstatten gingen, ist speziell in den westlichen Industrienationen ein stetiger, beschleunigter Wertewandel zu beobachten.

Kritiker dieser Entwicklung sprechen von Werteverfall und führen Erscheinungsformen wie abnehmender Gemeinsinn, Abnahme von Tugenden wie Höflichkeit, Sauberkeit oder Pünktlichkeit in´s Feld. Empirisch nachgewiesen kann diese Verlust selten werden, so dass andere Beobachter eher von einer „Verschiebung der Werteordnung mit Entstehung neuer Werte“ sprechen.

Auch innerhalb einer homogenen sozialen Gruppe hängen Menschen unterschiedlichen Wertevorstellungen an. Die Sozialisationshypothese nach Ronald Ingelhart besagt, dass die grundlegenden Wertvorstellungen eines Menschen vom Wertesystem geprägt sind, das er in seiner Jugend erlebt hat. Die Kriegsgeneration etwa legt mehr Wert auf Wirtschaftswachstum, Stabilität, Ordnung und Sicherheit im Staat, die nachfolgende Wohlstandsgeneration auf Selbstverwirklichung, Mitsprache und Meinungsfreiheit.

Ein- und derselbe Umstand kann dem einen als Werteverfall (z.B. Autoritätsverlust von Normen), dem anderen als Wertezuwachs (z.B. Liberalisierung der Gesellschaft) erscheinen. Beide Sichtweisen haben zunächst Anspruch darauf, akzeptiert und toleriert zu werden. Entscheidend ist es, den Gesprächsfaden zwischen beiden Gruppen nicht abreißen zu lassen und in Diskussionen das mehr das Verbindende als das Trennende in den Vordergrund zu stellen.

 

Wertekataloge und universelle Werte

Die meisten Gesellschaftsformen versuchen, konstitutive Werte in Verfassungen und Gesetzen zusammenzufassen. Auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland finden sich verbindende und verbindliche Werte wie Solidarität, Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Kulturstaatlichkeit und Gleichberechtigung von Mann und Frau. Aber auch grundgesetzlich geregelte Werte können einer kritischen Diskussion unterzogen und im Extremfall aus dem gemeinsamen Wertekanon gestrichen werden, etwa die privilegierte Sonderrolle der Kirchen innerhalb einer zunehmend säkularen Gesellschaft. Demokratien müssen sicherstellen, dass sich in ihrem Rahmen unterschiedliche Wertkonzeptionen und Lebensformen entfalten können. Sie setzt weder eine starke kollektive Identität noch ein Bekenntnis zu einer bestimmten Religion oder Weltanschauung voraus.

Auf der anderen Seite müssen Demokratien auch darauf achten, dass dieses hohe Maß an Freiheit, Pluralität und Menschenwürde des Einzelnen nicht von fundamentalistischen Gruppen zerstört wird. Eine der Menschheitsfragen ist, ob es jenseits politischer und religiöser Vorstellungen, international und universal anerkannte Werte geben kann, z.B. den Anspruch der Vernunft, der Gerechtigkeit oder der Gleichberechtigung der Geschlechter. Initiativen, die den Versuch unternehmen, universelle Werte festzuschreiben, sind etwa das „InterAction Council“ oder das „Projekt Weltethos“ des Theologen Hans Küng.

 

Editorische Notiz zur Reihe „Gedanken aus Dachau“

Solange es eine zivilisierte Menschheit gibt, wird der Name „Dachau“ mit seinem 1933 bis 1945 von den Nationalsozialisten betriebenen Konzentrationslager im kollektiven Gedächtnis als Symbol der Menschenverachtung belegt bleiben. Das Bemühen vieler, die Stadt heute als Lernort gegen totalitäre Gewalt zu etablieren, verdient allen Respekt und jegliche Unterstützung. Neben einer akribischen Geschichtsaufarbeitung sollten von solch einem Lernort auch Impulse der gegenwärtigen Menschenrechts- und Demokratiedebatte ausgehen.
Für dieses Anliegen möchte die vorliegende Reihe „Gedanken aus Dachau“ einen kleinen Beitrag leisten. Die Texte von Norbert Göttler verstehen sich als komprimierte Arbeits- und Argumentationshilfen sowie als Inspiration zum Weiterdenken.

Dr. phil. Norbert Göttler, 1959 in Dachau geboren, studierte in München Philosophie, Theologie und Geschichte. 1988 wurde er im Fach Sozial- und Wirtschaftsgeschichte promoviert. Er arbeitet als Publizist, Fernsehregisseur und Schriftsteller. Göttler ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums und Vize-Dekan an der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Von 2011 bis 2023 war er Bezirksheimatpfleger von Oberbayern. 2004 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.