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Verfassungs-Patriotismus statt Nationalismus

Darf man sein Vaterland lieben, auf es stolz sein? Im Gegensatz zur Heimatverbundenheit, die eine emotionale Nähe zu kleineren Lebenseinheiten, wie Region, Dorf oder Stadt, aber auch zu abstrakten Netzwerken wie Verwandtschaft, Szenen, digitale Communities, umschreibt, ist der Begriff Patriotismus (zu deutsch auch Vaterlandsliebe) stark mit der politischen Identifikation mit der eigenen Nation verknüpft.

Positiv verwendet, meint Patriotismus eine Verbundenheit mit der eigenen Nation, ohne diese über andere zu stellen oder diese – wie es im Nationalismus oder Chauvinismus üblich ist – überheblich zu diskreditieren. Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt, ein Nationalist oder Chauvinist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet. Herabsetzend kann der Nationalist auch auf jemanden einwirken, der gleicher Nationalität ist, aber dieser nicht die gleiche Bedeutung beimisst, wie der glühende Verteidiger des Vaterlands. Der Begriff Chauvinismus soll übrigens vom Rekruten Nicolas Chauvin hergeleitet sein, der in der napoleonischen Armee siebzehnmal verwundet wurde, und in übersteigertem Idealismus immer wieder und gegen den Befehl seiner Vorgesetzten zur Front eilte.

In Mitteleuropa hat sich der Patriotismus aus dem revolutionär verstandenen Liberalismus des Bürgertums entwickelt, das sich bewusst vom dynastischen Denken der alten Feudalherren abwendet wollte. Fraglich bleibt jedoch, ob staatliche Grenzen, die oft genug willkürlich und nicht selten gegen den Willen der Bevölkerung gezogen wurden, wirklich Basis für emotionale Beziehung sein können und sollen. Vorsicht ist immer dann angebracht, wenn überpersonale Einheiten, wie sie Staat und Gesellschaft darstellen, zum Nukleus für irrationale Leidenschaften und Fanatismen werden.

Die Grenze zwischen einem positiv patriotischen Gefühlen und herabsetzenden, nationalistischen Parolen ist schnell überschritten und politisch-demagogisch vielfach missbraucht. Machteliten haben zu allen Zeiten vaterländische Gefühle für ihre Zwecke instrumentalisiert, zudem gaukelt der Begriff Patriotismus oft eine ethnische oder weltanschauliche Einheit einer Nation vor, die in der Realität fast nirgends mehr vorzufinden ist.

In modernen wirtschaftlichen Zusammenhängen wird mit dem Aufruf zum Patriotismus oft versucht, das Konsumverhalten der Bürgerinnen und Bürger zu manipulieren: Buy british! Achetez Francaise! Sozialpsychologische Studien haben überdies gezeigt, dass die Unterscheidung zwischen positiven Patriotismus und negativem Nationalismus eher eine theoretisch konstruierte ist und Menschen mit stark nationalen Gefühlen sehr leicht zu unreflektierter Überheblichkeit neigen.

Ein Vorschlag, die emotionale Bereitschaft zur Identifikation mit einem Staat positiv zu kanalisieren, liegt in dem Begriff „Verfassungs-Patriotismus“. Hier werden Affekte wie Stolz, Liebe, Leidenschaft nicht auf Abstammungs- und Sprachgemeinschaften ihrer oft beliebig zusammen gewürfelten Bewohner gelenkt, sondern auf menschheitsgeschichtliche Errungenschaften wie Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, sozialer Ausgleich, Gleichberechtigung und so weiter. Auf diese Effekte, die oftmals mit dem Blut der eigenen Vorfahren erkauft wurden, darf und soll zu Recht jeder stolz und bereit sie zu verteidigen sein. Der Begriff „Verfassungspatriotismus“ wurde erstmals vom Soziologen Dolf Sternberger verwendet und später von Richard von Weizsäcker, Jürgen Habermas und anderen aufgegriffen.

 

Editorische Notiz zur Reihe „Gedanken aus Dachau“

Solange es eine zivilisierte Menschheit gibt, wird der Name „Dachau“ mit seinem 1933 bis 1945 von den Nationalsozialisten betriebenen Konzentrationslager im kollektiven Gedächtnis als Symbol der Menschenverachtung belegt bleiben. Das Bemühen vieler, die Stadt heute als Lernort gegen totalitäre Gewalt zu etablieren, verdient allen Respekt und jegliche Unterstützung. Neben einer akribischen Geschichtsaufarbeitung sollten von solch einem Lernort auch Impulse der gegenwärtigen Menschenrechts- und Demokratiedebatte ausgehen.
Für dieses Anliegen möchte die vorliegende Reihe „Gedanken aus Dachau“ einen kleinen Beitrag leisten. Die Texte von Norbert Göttler verstehen sich als komprimierte Arbeits- und Argumentationshilfen sowie als Inspiration zum Weiterdenken.

Dr. phil. Norbert Göttler, 1959 in Dachau geboren, studierte in München Philosophie, Theologie und Geschichte. 1988 wurde er im Fach Sozial- und Wirtschaftsgeschichte promoviert. Er arbeitet als Publizist, Fernsehregisseur und Schriftsteller. Göttler ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums und Vize-Dekan an der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Von 2011 bis 2023 war er Bezirksheimatpfleger von Oberbayern. 2004 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.