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Wehrhafte Demokratie

1. Die Wurzeln demokratischen Denkens

Eine Demokratie ist eine Staats- und Regierungsform, in der das Volk der Souverän ist, die Macht also vom gesamten Volk ausgeht. Dessen politischer Wille wird entweder unmittelbar durch Volksbefragungen („direkte Demokratie“), häufiger aber durch die Wahl entscheidungstragender Repräsentanten und Gremien („repräsentative Demokratie“) ermittelt. Vielerorts gibt es Mischformen, die „plebiszitäre Demokratien“ genannt werden. In Form von „parlamentarischen Monarchien“ können auch ehemalige Monarchien demokratisch geführt werden.
Demokratische Entscheidungen werden nach dem Mehrheits- und Koalitionsprinzip hergestellt. Die Suche nach Konsens sowie der Schutz von überstimmten Minderheiten und Oppositionen sind ebenso unabdingbare Elemente humanitärer Demokratien. Demokratie funktioniert nur im Umfeld von Gewaltenteilung und Menschenrechten wie der Meinungs- und Pressefreiheit. Um demokratischen Standards zu genügen, müssen Wahlen allgemein, gleich, frei, geheim und ohne Repressalien stattfinden können.

Nach rudimentären Anfängen im antiken Griechenland, wo nur freie Männer die Staatsgewalt in ihren Stadtstaaten ausübten, wurden demokratische Modelle vor allem durch die Aufklärung und die Französische Revolution befördert. Nach Kant ist jeder Mensch ein politisches, rationales, moralisches und nach Gerechtigkeit strebendes Subjekt, das auch seine Gesellschaftsform mitbestimmen können muss.
Förderlich für die Identifikation des Staatsvolks mit den Regierenden hat sich das Prinzip der „Subsidiarität“ herausgestellt, die Delegation von Entscheidungsprozessen an die möglichst unterste, bürgernahe Einheit. Subsidiarität kann daher (nach Locke und Montesquieu) durch „horizontale“ Gewaltenteilung (Judikative, Legislative und Exekutive) als auch (nach Aristoteles) durch „vertikalen“ Föderalismus erreicht werden. Am besten durch beides.
Nicht alle Staatsformen, die sich demokratisch nennen, erfüllen alle ihre Kriterien. Es gibt eine Reihe von „Scheindemokratien“, „defekte Demokratien“, ja sogar „autoritäre Scheindemokratien“, wie etwa die von Singapur. Der Grad der demokratischen Beteiligung ist weltweit unterschiedlich. Dem Demokratie-Index von 2021 zufolge leben rund 6% der Weltbevölkerung in „vollständigen Demokratien“, rund 40% in „unvollständigen Demokratien“, der Rest in mehr oder weniger teilautokratischen Systemen.
Auch stellt sich die Frage: Was tun, wenn demokratische Regierungen undemokratische Entscheidungen treffen? Auch demokratische Staaten stehen nicht über den Bürger- und Menschenrechten. Minderheiten müssen auch gegen den Willen von Mehrheiten geschützt werden. Insofern gibt es keine absolute Souveränität, auch nicht des Volkes.

2. Kritik und Gegenkritik

Auch in Deutschland gibt es eine abnehmende Akzeptanz des demokratischen Systems. In den alten Bundesländern ist die Zahl derer, die eine andere Staatsform befürworten seit dem Jahr 2000 von 9% auf 17%, in den neuen Bundesländern von 27% auf 41% gestiegen, parallel mit der Zunahme des Rechtsextremismus. Als vordergründige Hauptkritikpunkte werden genannt:
* Zu langwierige Abstimmung- und Verhandlungsprozesse
* Zu viel Zentralismus und Bürokratisierung
* Zu viel Einfluss durch Medien („Mediendemokratie“)
* Selbstüberforderung durch unhaltbare Wahlversprechen der Politiker*innen
* Selbstbedingung durch Parteien, schlechte Rekrutierung junger Politiker*innen
* Kurzfristigkeit der Wahlperioden
* Unbeweglicher Föderalismus
* Zu starker Lobbyismus durch Wirtschaft. Oder aber: Die Wirtschaft wird zu stark reglementiert.

Demokratie ist immer reformbedürftig. Die Legitimation des demokratischen Prinzips muss ständig neu bedacht werden, um sie nicht anfällig für totalitäre Tendenzen zu machen. Wie auch in der Menschenrechts-Debatte (s. dort) reichen religiöse oder naturrechtliche Bezüge allein nicht mehr aus, um Demokratien als (einzig) richtige Staatsformen zu begründen. Aber:
* Keine, in Teilen vielleicht zutreffende Kritik an Missständen erlaubt es aber, faschistische, völkische, rassistische und antisemitische Strömungen zu unterstützen. Ihre geistigen Brandstifter sind keine gesellschaftlichen Verlierer, sondern in Ost und West wohlhabende Täter, die allein ihre Karrieren im Sinn haben. Der einzige rote Faden von Reaktionären ist, die liberale Demokratie schlecht zu machen und auf die Dauer zu vernichten.
* Um dies zu vertuschen, missbrauchen und wechseln Rechtspopulisten die unterschiedlichsten Themen bewusst und ständig, z.B. Europa, Währung, Atomausstieg, Klimakrise, Migration, Corona, Heizungsgesetz etc. Sie selbst haben keine Lösungen dazu. Einzelthemen sind für sie nur Vehikel zur Destabilisierung der verhassten, liberalen und demokratischen Gesellschaft – von der sie aber ihrerseits alle erdenklichen Vorteile abschöpfen.
* Fachleute sehen unsere wirtschaftliche Krise keineswegs so gravierend wie die Hetzer von rechts. Viele Rechtspopulisten und Rechtsradikale interpretieren ihre persönliche Versagensgeschichte um und diskreditieren – bewusst oder unbewusst – Staat und Gesellschaft, um sich und andere von ihren eigenen Brüchen und Verwerfungen abzulenken.
* Nichtsdestotrotz muss sich auch die Demokratie immer um Verbesserung ihrer Vollzüge bemühen. Zahlreiche Themen harren in unserer Umbruchszeit auf bessere Lösungen. Diese von faschistoiden Gruppen zu erwarten, ist unhistorisch und absurd. Rechts- und linksradikale Regierungsformen haben immer nur zu Terror und Gewalt, aber auch zu wirtschaftlichem Chaos geführt.

3. Der ewige Faschismus

Die offene, liberale, solidarische, demokratische Gesellschaft, evolutiv gesehen ein junges Pflänzchen der politischen Welt, ist keineswegs dauerhaft gesichert, sondern nach wie vor extrem gefährdet. Dabei stand auch die Evolution von Mensch und Tier immer auf zwei Beinen: Das sozialdarwinistische Prinzip des „Survival of the fittest“, aber – was manche geflissentlich übersehen – auch Solidarität und Altruismus, ohne die keine Gruppe unter extremen Bedingungen überlebt hätte.
Der in allen Teilen der Welt zu registrierende Rechtspopulismus versucht, evolutiv tiefsitzende Prägungen von Homophobie und Xenophobie, Menschenverachtung, politischer Fanatismus sowie Frustration über eigenes Lebensversagen und Todesangst in politische Münze umzusetzen. Alle tagesaktuell vorgebrachten Begründungen sind – bewusst oder unbewusst – vordergründig.
Demoskopisch belastbare Untersuchung haben ergeben, dass die meisten Rechtspopulisten – entgegen ihrer Behauptung – nicht einem aktuellen Protestgefühl Luft machen, sondern die oben genannten Antriebe seit langem in sich tragen. Jetzt, zwei Generationen nach der von den Nationalsozialisten angestifteten Menschheitskatastrophe, führt eine „Schlußstrich-Mentalität“ zudem zu neuem extremistischem Denken.

Eine der Hauptthesen der Reaktionär lautet: Reaktionäre Parteien sind demokratische Parteien! Zwanzig und mehr Prozent kann man doch nicht einfach so abtun! Dagegen lässt sich einwenden:
* Die AfD etwa ist keine demokratische Partei, sie steht in Teilen unter Beobachtung des Verfassungsschutzes. Der demokratische Rechtsstaat lässt auch andere undemokratische Parteien zur Wahl zu (z.B. NPD, Dritter Weg, KPD, Marxistisch-Leninistische Union). Sie alle würden unsere Staatsform umstürzen, wenn man sie ließe. Vielleicht ist diese liberale Haltung unseres Staates falsch und selbstgefährdend. Zumindest muss die wehrhafte Demokratie alle gesetzlich erlaubten Mittel anwenden, sich zur Wehr zu setzen.
* Auch die NSDAP durfte man auf einer zugelassenen Liste demokratisch wählen, wovon die Deutschen hinlänglich Gebrauch gemacht haben. Die NSDAP hatte zunächst fünf, dann zwanzig, dann über fünfzig Prozent der Stimmen. Soll dieser Mechanismus als Argument für politische und verfassungsrechtliche Zuverlässigkeit geltend gemacht werden?
* Rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien sind keine konservativen, also bewahrenden Parteien. Sie sind ganz im Gegenteil umstürzlerisch und revolutionär. Hitlers NSDAP hat sofort alle konservativen Eliten in die KZ´s gesperrt, insofern sie nicht kollaboriert haben.

4. Neue Grundlegung der Demokratie

Altruismus und Solidarität
Die Kulturwissenschaften haben ziemlich eindeutig festgestellt, dass die evolutive Genese von Tier und Mensch, zwar auch auf Basis des sozialdarwinistischen „survival of the fittest“ (Überleben des Stärkeren), aber auch auf Basis des Altruismus und der Solidarität unter den Jagd- und Lebensgemeinschaften vorstatten ging. Weder Einzelne noch Stämme hätten überlebt, wenn allein das Faustrecht des Stärkeren das Zusammenleben geregelt hätte. Versöhnung und Empathie waren immer Teil der Überlebensstrategie einer Gruppe. Menschenrecht bedeutet, die gruppenspezifische Solidarität auf fremde Gruppen, ja auf die Menschheit insgesamt auszuweiten und evolutiv entstandene Formen der Xenophobie zurückzudrängen. Dieser Prozess der Wertegeneralisierung ist somit ein fundamentaler und unumkehrbarer Erkenntnisfortschritt der menschlichen Genese, der Kulturvierung und Humanisierung.

Gewalt- und Ohnmachtserfahrung
Nichts begründet die Demokratie überzeugender als die Erfahrung, dass ihre Missachtung zu jeder Zeit zu Faustrecht, Barbarei, Diktatur und Zerstörung geführt hat. Nichts deutet darauf hin, dass das in Zukunft anders sein sollte. Wer dies leugnet, ist entweder zynisch oder ein Kriegsgewinnler des Faustrechts. Hannah Arendt (1906-1975) hat aus ihren Erfahrungen mit den Nationalsozialisten, aber auch mit den Stalinisten klar formuliert: Jede totalitäre Form der Herrschaft setzt sofort die Menschenrechte außer Kraft. Es dürfe daher nicht im Befinden einzelner Staaten liegen, Menschenrechte und Demokratie zuzulassen oder nicht. Sie sind vorstaatlich. Sie sind vorstaatliche Rechte und gehen staatlichen Gesetzen voraus.
Im Untergrund aller totalitärer Staaten sehnen sich Menschen nach Demokratie. Sie arbeiten unter Lebensgefahr an dieser Vision. Ihnen aus der Sicht des sicheren Westens die Solidarität zu verweigern, ist dekadent. Ebenso die rassistische Auffassung, manche Völker seien eben für Demokratien nicht geeignet. Das hätte man 1945 gut und gerne den Deutschen vorhalten können.

Diskurs- und Gesellschaftsvertrag
Nach Jürgen Habermas (geb. 1929) und John Rawls (1921-2002) sind Menschenrechte und Demokratie Produkte eines jahrhundertelang sich entfaltenden Diskurs- und Gesellschaftsvertrags, der zwar menschengemacht, deshalb aber nicht beliebig rückholbar ist. Die Vernunft des Einzelnen allein reiche nicht aus, menschheitsgeschichtliche Werte zu schaffen, wohl aber der Diskurs vieler und vieler Generationen.
Menschenrechte wie die demokratische Mitbestimmung sind Teil einer politischen Selbstverpflichtung von Staaten. Diese verpflichten sich gegenseitig auf Einhaltung. Der Staat verzichtet damit auf seine absolute Souveränität, denn absolutistische Staaten werden transnationalen Menschenrechten niemals zustimmen. Zivilisierte Staaten lassen sich auf dieses „transzendentale Tauschgeschäft“, wie es der Philosoph Otfried Höffe (geb. 1943), nennt, ein. Sie verlieren einen Teil ihrer absoluten Gewalt, gewinnen aber die Solidarität und Achtung ihrer Bevölkerung und anderer Staaten.

Evidenz und Empathie
In der Philosophie gibt es den Begriff der Evidenz. Evident ist eine Tatsache dann, wenn sie einen unmittelbaren und unbezweifelbaren Wahrheitsanspruch besitzt, der nicht mehr lange theoretisch diskutiert werden muss. Nach den Erfahrungen von Holocaust und KZ-Terror hielt man Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und andere Menschenrechte für evident, subjektive Rechte, die jedem Menschen allein aufgrund seines Menschseins zustünden. Ohnmachts- und Gewalterfahrung der Menschheit haben zu einem generationenübergreifenden Reflexions- und Kommunikationsprozess geführt, der sich immer mehr der Formulierung der Menschenrechte genähert hat. Nichts ist universeller und unleugbarer als der Schmerz, nichts prägender als die existentielle Angst vor Folter, Todesstrafe und grausamer Bestrafung. Dieser Ansatz ist nicht postkolonial, sondern universell. Aus Leiden allein entsteht noch kein Wertebewusstsein, es muss ein Hoffnungsprozess hinzukommen, die Spirale aus Gewalt zu durchbrechen. Irritierend bleibt, dass heute nicht selten den Tätern mehr Empathie und Aufmerksamkeit entgegengerbacht wird als den Opfern.

Vielleicht muss man derzeit auf eine philosophische Letztbegründung von Demokratie und Menschenrechten verzichten. Es gibt aber eine überzeugende Reihe von kumulativen Argumenten für sie. Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit werden nicht das Paradies auf Erden schaffen, aber mithelfen, das Schlimmste, was Menschen als Täter anrichten können, zu verhindern. Oder anders ausgedrückt: Die weltweite Erfahrung hat gezeigt, dass Menschen in Staaten, die sich menschenrechtlichen Standards verpflichtet fühlen, friedlicher, sozial entspannter, wirtschaftlich und kulturell kreativer leben. Und dass sie weniger Aggressionspotential für ihre Nachbarn darstellen.
Nach Karl Popper sind Demokratie und Gewaltenteilung der beste Schutz gegen Tyrannen. Demokratisch gewählte Volksvertreter sind nicht per se die besseren Staatsführer, können aber regelmäßig und unblutig wieder abgelöst werden. Nach Hermann Broch ist Demokratie die beste Voraussetzung für Humanisierung und Frieden in der Welt, tatsächlich führen demokratische Staaten signifikant weniger Kriege gegeneinander als nicht-demokratische.

5. Wehrhafte Strategien

Eine liberale, offene Gesellschaft steht immer in der Gefahr, ihren Feinden zu viel Wirkungsraum zu gestatten, die zu ihrer eigenen Zerstörung führen kann. Die Erfahrungen der Weimarer Republik, die letztendlich auch durch ihre Toleranz, die sie ihren Feinden zukommen ließ, zugrunde ging, untermauerten diese Befürchtungen und ließen in der jungen Bundesrepublik Deutschland den Begriff „wehrhafte“ oder „streitbare“ Demokratie entstehen. „Man muss auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen!“, sagte Carlo Schmid 1948 im Parlamentarischen Rat. Das Bundesverfassungsgericht hat den Begriff der „wehrhaften“ oder „streitbaren“ Demokratie insoweit gestärkt, als es durch seine Gesetzgebung dafür gesorgt hat, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung auf legalem Wege, z.B. durch Mehrheitsbeschlüsse, nicht aufgehoben werden kann. Es hat zudem Mittel und Wege gewiesen, gegen verfassungsfeindliche Parteien und Einzelpersonen präventiv vorzugehen.
Das Prinzip der wehrhaften oder streitbaren Demokratie will verhindern, dass die freiheitlich, demokratische Grundordnung durch Mehrheitsbeschlüsse im Parlament außer Kraft gesetzt werden kann. Das Prinzip der Demokratie und der bürgerlichen Grundrechte stehen in Deutschland nicht mehr zur Diskussion und können nicht mehr ohne Gewalt abgeschafft werden. Der Staat muss sich daher mit allen gesetzlichen Mitteln, im Extremfall auch dem des Parteienverbots, gegen verfassungsfeindliche Gruppen und Parteien zur Wehr zu setzen (GG Art 9). Eine verfassungsfeindliche Einstellung genügt dafür nicht, es müssen konkrete und planmäßige Aktivitäten zur Abschaffung der Demokratie vorliegen.
Um es nicht zur Ultima Ratio von Parteienverboten kommen zu lassen sind eine Reihe von präventiven Maßnahmen zum Schutz der Demokratie unerlässlich:

1. Rechtzeitiges Identifizieren und Benennen von demokratiefeindlichen Einstellungen, wobei dem Mut vor dem (meist konkreten) Freund eine ebenso große Rolle zukommen muss, wie dem Mut vor dem (meist abstrakten) Gegner.

2. Vorrang der Verantwortungs-Eilte vor Partei-Establishment
Viele Eliten in demokratischen Staaten haben sich zu reformunwillige Establishments deformiert. Die Demokratie reformieren werden nicht die bequemen Establishments, sondern allein die aufgeklärte, mündige Bürgergesellschaft.

3. Kritisches Hinterfragen eines internationalen Ultra-Kapitalismus
Ultra-Kapitalisten und Rechtsreaktionäre sind sich einig: Der liberale Staat muss weg. Wirtschaftlicher Ultra-Kapitalismus ist eine Gefahr für die Demokratie, der diese nur als Melkkuh betrachtet. Ultra-Kapitalismus maximiert die Ungleichheit, was die Gesellschaft spaltet, extreme Parteien fördert und die Demokratie zerrüttet.

4. Abbau von Mißständen in Partei, Regierung und Verwaltung

5. Verstärkte Demokratiebildung in Schule und Erwachsenenbildung