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Offene und Geschlossene Gesellschaft

Unter einer „offenen Gesellschaft“ wird heute landläufig eine Gesellschaft verstanden, die ihren einzelnen Mitgliedern durch ein liberales, plurales Wertesystem so viel Entfaltungsmöglichkeit wie möglich zugesteht und ausdrücklich offen ist für Menschen, die sich diesem Lebensmodell anschließen möchten. Im engeren Sinn entstammt der Begriff „offene Gesellschaft“ der Philosophie Karl Poppers, der damit bereits 1945 ein demokratisches Gesellschaftmodell skizziert, in dem die Macht des Staates so weit wie möglich geteilt werden muss, um Missbrauch zu verhindern und die „kritischen Fähigkeiten des Menschen“ freizusetzen. Damit sich offene Gesellschaften kulturell entfalten können, braucht es – so Popper schon 1945 – Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie eine religiöse Neutralität des Staates.

Die Feinde der „offenen Gesellschaft“ sind totalitäre Gesellschaftsformen wie Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus. Sie vertreten eine „Geschlossene Gesellschaft“, die sich unvermeidlich in eine bestimmte historische Richtung zu bewegen hat. Statt durch einen pluralen und intellektuellen Meinungsaustausch wird die Gesellschaft durch den intoleranten Machtanspruch einer Elite, z.B. einer Partei, vorangetrieben. 1944 hat bereits Jean-Paul Sartre ein Theaterstück „Geschlossene Gesellschaft“ (huis clos) genannt.

Kritiker von Poppers Ansatz einer liberalen, offenen Gesellschaft vertraten die Befürchtung, eine solche Gesellschaft würde auch ihren Feinden zu viel Wirkungsraum gestatten, die zu ihrer eigenen Zerstörung führen könne. Die Erfahrungen der Weimarer Republik, die letztendlich auch durch ihre Toleranz, die sie ihren Feinden zukommen ließ, zugrunde ging, untermauerten diese Befürchtungen und ließen in der jungen Bundesrepublik Deutschland den Begriff „wehrhafte“ oder „streitbare“ Demokratie entstehen. „Man muss auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen!“, sagte Carlo Schmid 1948 im Parlamentarischen Rat.

Das Bundesverfassungsgericht hat den Begriff der „wehrhaften“ oder „streitbaren“ Demokratie insoweit gestärkt, als es durch seine Gesetzgebung dafür gesorgt hat, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung auf legalem Wege, z.B. durch Mehrheitsbeschlüsse, nicht aufgehoben werden kann. Es hat zudem Mittel und Wege gewiesen, gegen verfassungsfeindliche Parteien und Einzelpersonen präventiv vorzugehen.

 

Editorische Notiz zur Reihe „Gedanken aus Dachau“

Solange es eine zivilisierte Menschheit gibt, wird der Name „Dachau“ mit seinem 1933 bis 1945 von den Nationalsozialisten betriebenen Konzentrationslager im kollektiven Gedächtnis als Symbol der Menschenverachtung belegt bleiben. Das Bemühen vieler, die Stadt heute als Lernort gegen totalitäre Gewalt zu etablieren, verdient allen Respekt und jegliche Unterstützung. Neben einer akribischen Geschichtsaufarbeitung sollten von solch einem Lernort auch Impulse der gegenwärtigen Menschenrechts- und Demokratiedebatte ausgehen.
Für dieses Anliegen möchte die vorliegende Reihe „Gedanken aus Dachau“ einen kleinen Beitrag leisten. Die Texte von Norbert Göttler verstehen sich als komprimierte Arbeits- und Argumentationshilfen sowie als Inspiration zum Weiterdenken.

Dr. phil. Norbert Göttler, 1959 in Dachau geboren, studierte in München Philosophie, Theologie und Geschichte. 1988 wurde er im Fach Sozial- und Wirtschaftsgeschichte promoviert. Er arbeitet als Publizist, Fernsehregisseur und Schriftsteller. Göttler ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums und Vize-Dekan an der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Von 2011 bis 2023 war er Bezirksheimatpfleger von Oberbayern. 2004 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.