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Heimat und Heimaten

Der juristische Heimatbegriff

Wenn unser heutiger Heimatbegriff für viele Menschen mit einer romantisch-nostalgischen Note verbunden ist, so ist das ein eher neuzeitliches Gefühl. Die harten Lebensbedingungen, in der die meisten unserer Vorfahren lebten, ließen solche Emotionen kaum zu. Heimat, das war zuerst ein nüchterner Begriff der existentiellen Grundversorgung. Das historische „Heimatrecht“ beschrieb die Zugehörigkeit einer Person zu einer bestimmten Gemeinde und damit den Anspruch auf ungestörten Aufenthalt, auf Armenpflege im Falle der Not und auf das Recht der Eheschließung. Im Wörterbuch der Gebrüder Grimm von 1877 wird Heimat als „Landstrich, wo man bleibendes Aufenthaltsrecht hat“ definiert. Das Prozedere um das Heimatrecht war wenig romantisch. Es wurde nicht kostenlos verliehen, musste hart und teuer erworben und durch eine amtliche Urkunde bestätigt werden. Wer sich das nicht leisten konnte, war in vielen Fällen Gemeindebürger zweiter Klasse, durfte z.B. keine Familie gründen, kein eigenes Gewerbe ausüben und nicht zur Wahl gehen, auch wenn er seit Generationen im Dorf lebte. Erst im späten 19. Jahrhundert wurde das Prinzip des Heimatrechts durch das Recht auf Freizügigkeit und durch das Sozialstaatsprinzip abgelöst. Übrigens war bereits das Heimatrecht seinerzeit ein sozialer Fortschritt, denn zu Zeiten des ungeregelten Feudalismus konnte der Grundherr seine Hintersassen jederzeit „abstiften“, also von Haus, Hof und Dorf in die bitterste Armut jagen. Viele Städte und Märkte haben heute noch Viertel mit dem Namen „Im Elend“. Dort hausten die Fremden und Reisenden, die „Verganteten“ und „Stiften Gegangenen“.

Der topographische Heimatbegriff

Kriege und Hungersnöte haben Menschen zu allen Zeiten bewogen, ihre angestammten Siedlungsplätze zu verlassen. Der medizinische und hygienische Fortschritt des 19. Jahrhunderts tat sein Übriges. Die Bevölkerungszahlen schossen in die Höhe und generierten in vielen Regionen ein ländliches Proletariat. Der vererbte Hof ernährte nur eine Familie und das Gesinde, die so genannten „Ehalten“. Um nicht zuhause verhungern oder in ärmlichsten Verhältnissen leben zu müssen, blieb vielen nachgeborenen Bauern- und Handwerkerkindern oftmals nur die Möglichkeit, in die Fremde zu gehen: in ein Kloster, in das Fabrikgetto der Frühindustrie oder – auf dem fensterlosen Zwischendeck eines „Seelenverkäufers“ – in die Ungewissheit und Sprachlosigkeit der Auswanderung z.B. nach Amerika.

Lernt man erst in der Fremde das Eigene kennen und schätzen? Ist das „stärkste Heimatgefühl das Heimweh des Fortgegangenen“, wie es der Schriftsteller Bernhard Schlink in seinem Essay „Heimat als Utopie“ formulierte? Auf jeden Fall wird aus dem Weggehenden in besonderer Weise ein Heimatbezogener. Dem alten Dorf, der alten Landschaft wird nachgetrauert, die alte Heimat oft genug idealisiert – es entsteht „Heimweh“. Es gibt kulturgeschichtliche Theorien, wonach sich ein emotionaler Heimatbegriff erst in Zeiten der großen Bevölkerungsbewegungen des 19. Jahrhunderts entwickelte. Heimat ist demnach ein Produkt von Verlusterfahrung. Während unter dem Eindruck der Frühindustrialisierung die alten bäuerlichen und ständischen Strukturen zusammenbrechen, schreibt man romantische Gedichte auf die Heimat. Während 1844 in Schlesien der Weberaufstand tobt, macht die Romantik den Heimatbegriff endgültig zum abendländischen Mythos. Zu dieser Zeit war der Heimatbegriff immer noch ein topographischer. Jeder, der ihn im Munde führt, meint ein bestimmtes Dorf, ein Stadtviertel, eine Landschaft.

 

Der utopische Heimatbegriff

Nach 1945 durch die Umstände der Vertreibung, seither durch die Notwendigkeit einer permanent mobilen Industriegesellschaft sieht sich die Mehrheit unserer Bevölkerung gezwungen, sich eventuell sogar mehrfach im Leben neue Heimaten zu schaffen, fern der Orte von Geburt, Kindheit und Jugend. Neuen Heimaten? Kann es diesen Plural überhaupt geben? Mehrere anerkannte Wörterbücher verneinen das. Semantisch haben sie wohl Recht, sachlich hingegen nicht. Die Erfahrung vieler, die sich neue Heimaten geschaffen haben, spricht dagegen. „Ubi bene, ibi patria“ sagt Cicero, und zitiert damit bereits ein Wort des 400 Jahre älteren Aristophanes: „Wo es einem gut geht, da ist sein Vaterland!“ Ähnlich drückt es der Philosoph Karl Jaspers im 20. Jahrhundert aus: „Heimat ist da, wo ich verstehe und wo ich verstanden werde.“ Das ist das Ende des topographischen Heimatbegriffs. Heimat wird zur Utopie – zum „u-topos“, zum „Nicht-Ort“. Bernhard Schlink schiebt den ortsgebundenen Heimatbegriff ausdrücklich beiseite und betrachtete Heimat als imaginären Ort der Sehnsucht. Er bezieht sich dabei auf den jüdischen Philosophen Ernst Bloch, der sagte „Heimat ist der Ort den ich nie erreichen werde.“ Auch Menschen mit einem utopischen Heimatbegriff suchen nach Heimat. Aber weniger an konkreten Orten, sondern in Szenen, Netzwerken, Internetforen, auch in abstrakten Denkgebäuden und Kunststilen.

 

Heimat, Nationalismus und Patriotismus

Ein moderner Heimatbegriff muss sich abgrenzen von Phänomenen wie Nationalismus, Patriotismus oder gar Chauvinismus. Im Gegensatz zur Heimatverbundenheit, die eine emotionale Nähe und Verantwortungsbereitschaft zu kleineren Lebenseinheiten, wie Region, Dorf oder Stadt, aber auch zu abstrakten Netzwerken wie Verwandtschaft, Szenen, digitale Communities, umschreibt, sind die Begriffe Nationalismus und Patriotismus stark mit der politischen Identifikation mit der eigenen Nation verknüpft.

Positiv verwendet, meint „Patriotismus“ eine Verbundenheit mit der eigenen Nation, ohne diese über andere zu stellen oder diese – wie es im Nationalismus oder Chauvinismus üblich ist – überheblich zu diskreditieren. Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt, ein Nationalist oder Chauvinist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet.
Herabsetzend kann der Nationalist auch auf jemanden einwirken, der gleicher Nationalität ist, aber dieser nicht die gleiche Bedeutung beimisst, wie der glühende Verteidiger des Vaterlands. Oder er kann glühender Gegner einer „offenen Gesellschaft“ sein, der anderen den Zugang dazu vehement verwehren will.

Die Grenze zwischen positiv patriotischen Gefühlen und herabsetzenden, nationalistischen Parolen ist schnell überschritten und politisch-demagogisch vielfach missbraucht. Vorsicht ist immer dann angebracht, wenn überpersonale Einheiten, wie sie Staat und Gesellschaft darstellen, zum Nukleus für irrationale Leidenschaften und Fanatismen werden.
Ein Vorschlag, die emotionale Bereitschaft zur Identifikation mit einem Staat positiv zu kanalisieren, liegt in dem Begriff „Verfassungs-Patriotismus“. Hier werden Affekte wie Stolz, Liebe, Leidenschaft nicht auf Abstammungs- und Sprachgemeinschaften ihrer oft beliebig zusammen gewürfelten Bewohner gelenkt, sondern auf menschheitsgeschichtliche Errungenschaften wie Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, sozialer Ausgleich, Gleichberechtigung und so weiter. Auf diese Effekte, die oftmals mit dem Blut der eigenen Vorfahren erkauft wurden, darf und soll zu Recht jeder stolz und bereit sie zu verteidigen sein. Der Begriff „Verfassungspatriotismus“ wurde erstmals vom Soziologen Dolf Sternberger verwendet und später von Richard von Weizsäcker, Jürgen Habermas und anderen aufgegriffen.

 

Editorische Notiz zur Reihe „Gedanken aus Dachau“

Solange es eine zivilisierte Menschheit gibt, wird der Name „Dachau“ mit seinem 1933 bis 1945 von den Nationalsozialisten betriebenen Konzentrationslager im kollektiven Gedächtnis als Symbol der Menschenverachtung belegt bleiben. Das Bemühen vieler, die Stadt heute als Lernort gegen totalitäre Gewalt zu etablieren, verdient allen Respekt und jegliche Unterstützung. Neben einer akribischen Geschichtsaufarbeitung sollten von solch einem Lernort auch Impulse der gegenwärtigen Menschenrechts- und Demokratiedebatte ausgehen.
Für dieses Anliegen möchte die vorliegende Reihe „Gedanken aus Dachau“ einen kleinen Beitrag leisten. Die Texte von Norbert Göttler verstehen sich als komprimierte Arbeits- und Argumentationshilfen sowie als Inspiration zum Weiterdenken.

Dr. phil. Norbert Göttler, 1959 in Dachau geboren, studierte in München Philosophie, Theologie und Geschichte. 1988 wurde er im Fach Sozial- und Wirtschaftsgeschichte promoviert. Er arbeitet als Publizist, Fernsehregisseur und Schriftsteller. Göttler ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums und Vize-Dekan an der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Von 2011 bis 2023 war er Bezirksheimatpfleger von Oberbayern. 2004 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.